

Mit über 60 Jahren, da fängt der Hass erst an
Christoph Bartmann in FALTER 10/2010 vom 12.03.2010 (S. 26)
Formbewusst, engagiert und dosiert humorvoll: Michael Scharangs "Komödie des Alterns"
Michael Scharang habe "eine neue ästhetische Möglichkeit für das Schreiben gesellschaftskritischer Literatur gefunden", wird im Klappentext von Scharang "Komödie des Alterns" Elfriede Jelinek zitiert. Das macht neugierig.
Für gesellschaftskritische Literatur ist Scharang schon länger bekannt, ohne dass man bei ihm unbedingt eine neue ästhetische Möglichkeit hätte erkennen können. Hat Scharangs Schreiben sich also seit seinem letzten Roman "Das jüngste Gericht des Michelangelo Spatz" von 1998 verändert? Eines steht schon fest, bevor man sich ernsthaft dieser Frage widmet: "Gesellschaftskritische Literatur" ist wieder wichtig (nach all dem Creative Writing), und je wichtiger sie ist, desto "neuer" sind ihre "ästhetischen Möglichkeiten" – wofür Jelinek selbst das beste Beispiel ist. Fazit: Wir sehen dem neuen Roman von Michael Scharang, seinem ersten bei Suhrkamp, mit einer gewissen Erwartung entgegen.
Der erste Eindruck: Dieser Roman ist, auf eine vielleicht altmodische, vielleicht zukunftsweisende Art "thematisch". Es geht um etwas, nämlich um die Lebensentwürfe zweier Männer und Freunde, die einmal die Welt verändern wollten (und sie auch verändert haben) und die nun, aus nicht restlos nachvollziehbaren Gründen, Feinde geworden sind. Der eine ist Österreicher (aus proletarischer Familie) und Schriftsteller und hört auf den schönen Namen Heinrich Freudensprung. Der andere ist Ägypter (aus vornehmer Familie) und Ingenieur und heißt Zarachias Sarani.
Als der Ägypter vor 40 Jahren in einem obersteirischen Stahlwerk ein Praktikum absolvierte, hat er dort den jungen Österreicher kennengelernt. Was sie verband – und man merkt schon, dass dies in einem altmodischen oder zukunftsweisenden Brecht-Sinn auch eine Lehrgeschichte ist – war ihre Intelligenz, ihre Liebe zur Musik, ihr Enthusiasmus für alles Mögliche und ihre Ablehnung des kapitalistischen Wirtschaftens. Gemeinsam wollten sie an einer besseren Welt bauen, und was sie dann tatsächlich gebaut haben, ist eine Musterfarm in der ägyptischen Wüste.
Nun aber herrscht Feindschaft zwischen den beiden. Der eine hält den anderen für einen Intriganten, und – was vielleicht noch schlimmer ist – das Alter (oder das eingebildete Alter) setzt ihnen derart zu, dass die beiden Sixty-Somethings am Liebsten aus dem Leben scheiden würden. Eine Tragödie? Nein, eine Komödie, die "Komödie des Alterns", die Scharang wirkungsvoll in Szene setzt, ohne uns zu erklären, warum man sich mit 60, und obendrein in Gesellschaft jüngerer Frauen, dermaßen elend fühlen muss.
Nun aber zu den ästhetischen Möglichkeiten. In einem Interview hat Scharang angemerkt, der Roman sei ein "Sprachkunstwerk" und der Prolog seiner "Komödie" sei "geradezu ein ästhetisches Manifest gegen das Plaudern und Plappern im gegenwärtigen literarischen Biedermeier". Das ist gut und richtig gesagt, nur kommt jetzt alles darauf an, ob Scharang in seinem Prolog einen Ton anschlägt, der sich von der laufenden "Schundproduktion" signifikant absetzt.
Wir lesen: "Sofern kein Gewitter aufzog – im Sommer fuhren Blitze nieder mit einer Angriffslust, dass man sich, die beiden waren einmal in ein Unwetter geraten, freiwillig hinwarf und das Gesicht ins Geröll drückte – und sofern im Winter der Fels nicht mit Eis überzogen war, unternahmen die beiden jeden Sonntag eine Klettertour auf den Hochschwab, ein Klettermassiv inmitten der Steiermark."
Das ist aus dem Zusammenhang gerissen, aber es verdeutlicht vielleicht, dass Scharang auf eine Klarheit in der Sprache aus ist, auf ihre Reinigung vom Alltagsgebrauch und auf eine – erneut der Klappentext – "strenge Fügung" der Form. Während er behände zwischen den Zeiten und Figuren hin und her springt,
wahrt Scharang in der sprachlichen Gestalt des Romans den "Takt". Das führt, vor dem Hintergrund des sonstigen Erzähl-Biedermeier, zu einem gewissen Verfremdungseffekt. Scharang führt Kraus und Musil als seine Helden an, aber wir lesen aus diesem Roman mindestens ebenso viel Brecht heraus. Das heißt, Scharang
ist mit diesem Roman so aktuell und zeitgemäß, wie es Brecht gerade ist, also sehr.
Nein, dies ist kein Biedermeier, auch kein sozialistisches, dies ist gute, sperrige, formbewusste und engagierte Prosa, die alle möglichen literarischen Konsense der Gegenwart – etwa den, dass man sich keine bessere Welt vorstellen dürfe, sondern stattdessen die existierende als grässliche ausmalen solle – wirkungsvoll infrage stellt.
Aber ist das nicht eine eher humorlose und pädagogische Veranstaltung? Erstens: Pädagogik ist nicht falsch, und zweitens: Der Humor ist da, nur wohldosiert und gut versteckt. Hier und da erlaubt sich Scharang Scherze, etwa wenn er vom Klavierunterricht erzählt, den der Onkel des Ägypters einst an der Wiener Musikakademie nahm. "Seine Lehrerin", heißt es da, "die wegen ihres Sarkasmus gefürchtete Franziska Huppert, war aus Überzeugung antipädagogisch."
Franziska Huppert? Klavierlehrerin? Wien? Jelinek? Da fällt uns doch eine französische Schauspielerin ein. "Zur Begrüßung sagte sie jedem Schüler – Schülerinnen nahm sie nicht, sie war extrem frauenfeindlich –, er möge sich stets vergegenwärtigen, dass er eine Zumutung für die Musik sei."
Ist das vielleicht ein kleiner Gruß an die Kollegin Jelinek? Und was wird aus den beiden befreundeten Todfeinden? Nur so viel: Dies ist eine Komödie, und sie bleibt es. Wie soll es auch anders sein, wenn ihr Held "Freudensprung" heißt?