

Wodka-Diplomatie
Wolfgang Zwander in FALTER 38/2011 vom 23.09.2011 (S. 16)
Der Mythos sagt, die österreichische Delegation habe die Russen 1955 bei den Staatsvertragsverhandlungen in Moskau unter den Tisch gesoffen, um ihnen die Souveränität Österreichs abzutrotzen. Im vorliegenden Buch "Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten" von Alexander Kluge findet sich ein starker Hinweis auf den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte. Im Jahr 1961 konferierten in Wien US-Präsident John F. Kennedy und KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow über die Zukunft Ostberlins. Ein im Dienste der DDR stehender Spion verfasste über das historische Treffen folgendes Dossier (in sperrigem Deutsch): "Auf dem Bahnsteig: Begrüßung durch den österreichischen Bundespräsidenten Adolf Schärf. (...) Der Empfang unser Delegation überaus samten, überbekerzte Freundlichkeiten (auf mich 1 Spur ironisch wirkend : ?stiller Triumf noch=immer wegen 1955: Wodka-Diplomatie zum Staatsvertrag, Schärf war Daran beteiligt, hatte ihn mitausgearbeitet & uns-Russen geschlagen mit unsern eigenen Waffen)." In Kluges Buch finden sich weitere 132 solcher Geschichten, die quasi im Vorbeigehen die große Weltpolitik erzählen. Eine Schatzkiste für jeden Homo politicus.
Die Bretter, die die Politik bedeuten
Tobias Heyl in FALTER 10/2011 vom 11.03.2011 (S. 23)
Auf der Suche nach dem Politischen wieselt Alexander Kluge durch die Welt- und Zeitgeschichte
Der Beruf des Politikers – so Max Weber in einem berühmten Vortrag im Januar 1919 – sei das starke Bohren harter Bretter mit Augenmaß und Leidenschaft. Kann sich jemand Alexander Kluge, den wieselflinken Ideenartisten, als Politiker vorstellen? Nun ja, seine Filme, Fernsehsendungen und Bücher, auch für belastbare Fans kaum noch zu überblicken, agieren politisch im doppelten Sinn: als Kommentare zu den laufenden Ereignissen, die sich den üblichen Gesetzen des politischen Diskurses verweigern und damit, zweitens, eine ganze eigene Sprache der Bilder, Gleichnisse und Allegorien erfinden, in der sie die öffentlichen Angelegenheiten verhandeln.
Nun also "133 politische Geschichten", auf den ersten Blick so zierlich wie Laubsägearbeiten, bei genauerer Lektüre aber doch Bohrungen in harten Brettern. Seinen Stoff findet Kluge in der Weltgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, die Akteure sind die großen Heroen von Perikles bis Obama, aber auch namenlose
Adlati und völlig Unbekannte, denen ungewollt für einen Moment eine Rolle in der Geschichte zugefallen ist.
Das Bergwerksunglück zum Beispiel ist ein bewährter Novellenstoff. Kluge greift ihn noch einmal in einer tagesaktuellen Wendung auf: Was spielte sich ab im vergangenen Sommer, als 33 chilenische Kumpel in einer Kupfermine eingeschlossen waren und sich darauf einstellen mussten, wenn überhaupt, erst Monate später gerettet zu werden?
Wiederholte sich da tief unten im Berg, als unter den Kumpeln Macht und Vertrauen ausgehandelt werden mussten, eine Urszene des Gesellschaftsvertrags? Was geht auf einem französischen Postschiff vor, das im fernen Pazifik unterwegs ist und dessen Besatzung erst im Januar 1790 von der Revolution in Paris erfährt, ein knappes halbes Jahr also außerhalb des historischen Raums kreuzte?
Solche Geschichten sind es, die Kluge an den Kern des Politischen führen, dorthin, wo es um die rechte Weise zu leben geht, aber auch um Macht, Vertrauen und Gerechtigkeit. Die kurze Erzählung, als Gattung das schiere Gegenteil der monumentalen Wissenschaftsprosa Max Webers, ermöglicht ihm ganz unterschiedliche Versuchsanordnungen, um sich diesen großen Begriffen anzunähern.
Kluge greift als Erzähler auf spielerische Verfahren zurück, die man aus seiner Fernseharbeit kennt: Er denkt sich etwa eine kleine Figur aus, die als Dolmetscher oder Protokollbeamter große Staatsaktionen beobachtet; er erfindet Wissenschaftler, die in die Rolle des Erzählers schlüpfen; er protokolliert lange Dialoge, deren Ton an seine berühmten Fernsehinterviews erinnert. Der Erzähler in der Rolle des Gastgebers: Dazu passt gut, dass eine lange, in zwei Abschnitte aufgeteilte Erzählung in diesem Buch von Reinhard Jirgl stammt, der einen Dolmetscher aus der sowjetischen Delegation über das Wiener Treffen von Chruschtschow und Kennedy berichten lässt.
Das starke Bohren harter Bretter: Alexander Kluges neueste Geschichten bearbeiten jenes Material, von dem auch schon Max Weber gesprochen hat. Das härteste Brett aber, das sie sich vornehmen, ist die Politik selbst. Wer sich der mit Leidenschaft und Augenmaß zuwendet, braucht zunächst einmal unterschiedliches Handwerkzeug für Grob- und Feinarbeiten, je nachdem, ob er etwa einen Putsch vorbereitet oder einen diplomatischen Coup einfädelt.
Das von Max Weber beschworene Bild solider Handwerksarbeit deckt aber nur einen Teil der politischen Praxis ab. Den Rest besorgen der Zufall, Chancen und Konstellationen, mit denen keiner gerechnet hat, auch Emotionen, die niemand vollständig zu kontrollieren vermag.
Für sie ist eine eigene Methode der politischen Wissensproduktion zuständig, deren Erfinder Alexander Kluge heißt: hellwach und hochgebildet, sensibel und virtuos in der Fähigkeit zur Assoziation, ein seltenes Wunder der Wissenschaft wie der Literatur.