

Spätpubertätsklassiker in der Provinz
Tobias Heyl in FALTER 41/2014 vom 10.10.2014 (S. 20)
Trivialer Plot, artifizielle Ausführung: Lisa Kränzlers Roman "Lichtfang" erzählt vom Scheitern der ersten großen Liebe
Das letzte Jahr vor der Matura, die erste große Liebe, und man sollte meinen, die beiden seien füreinander geschaffen. Aber es soll nicht sein: weil ein Dritter (oder eine Dritte) destruktiv ins Spiel kommt oder weil es die beiden, warum auch immer, nicht übers Herz bringen, einander reinen Wein einzuschenken. Drama, Verzweiflung.
Hat man sie nicht überhaupt selbst durchlitten, dann hat man diese Geschichte schon oft gehört – nun führt Lisa Kränzler, in Klagenfurt 2012 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet und ein Jahr später in Leipzig nominiert, diesen Spätpubertätsklassiker noch einmal in der oberschwäbischen Provinz auf.
Er heißt Rufus und hat rote Haare, Typ cooler Checker, ziemlich gut im Basketball, außerdem schätzt er an den Naturwissenschaften, dass sie das Leben ein Stück weit berechenbar machen. Sie heißt Lilith, und mit diesem Namen verbinden sich bekanntlich von der sumerischen Mythologie bis heute eher komplizierte Frauenschicksale. Kränzlers Lilith macht ihrem Namen alle Ehre, denn im Gegensatz zum pragmatischen Rufus will sie gerade kein berechenbares Leben, nicht einmal eine Biografie oder eine Zukunft: Sie will einfach malen, ganz für sich, sonst nichts – abgesehen von Rufus. Wenige Monate vor den Abschlussprüfungen schmeißt sie konsequenterweise die Schule.
Dass Rufus und Lilith einander begehren, überrascht nur auf den ersten Blick. Etwas nagt in ihnen, beide spüren, dass das Leben irgendwie mehr zu bieten hat als die oberschwäbische Provinz. Das entfremdet sie von ihren Familien und ihren Schulkameraden. Rufus kann mit dieser Fremdheit ganz gut umgehen, er ist als Basketballspieler anerkannt und weiß schon früh, dass er eines Tages sowieso alles hinter sich lassen wird.
Auch Lilith will hinaus, und zwar so schnell wie möglich, aber das ist bei ihr ein unscharfes Gefühl, weil sie im Grunde nicht weiß, was sie draußen soll. Wenn sich Rufus und Lilith ein bisschen näherkommen, dann hofft man inständig, dass sie einmal den Mund aufmachen, dass sie einen Plan entwickeln für das, was nach der Schule passieren soll. Aber sie machen den Mund nicht auf, vielleicht weil sie ein bisschen verklemmt sind und auf eine typisch pubertäre Weise stolz.
Und so wird eine gnadenlose Abfolge von Missverständnissen, Kränkungen, kurzen Augenblicken des Glücks und Enttäuschungen in Gang gesetzt, auf dem Schulhof, am See, bei Partys mit fiesem Alkohol und unglücklichem Sex. Dabei macht auch Rufus nicht immer eine gute Figur, aber um Lilith hat man von Anfang an Angst. Sie zeigt Symptome von Magersucht, lebt in ihrem Körper, der um sie herumzuschlottern scheint, als habe sie sich schon aufgegeben: "Mein Körper ist ein Fass voll Furcht."
Nur beim Malen entwickelt sie ungeheure Energien, sie pinselt mit dicken Farben auf riesigen Papierrollen – wie das übrigens Lisa Kränzler in ihrer zweiten Rolle als Malerin ebenfalls praktiziert. Doch diese Energien treiben sie immer tiefer in die Einsamkeit, Rufus gerät ihr aus dem Blick, völlig derangiert streicht sie durchs Städtchen, zugedröhnt mit Crack zerstört sie ihr Atelier, zündet ihre Bilder und ihre Papiervorräte an, fängst selbst Feuer und erliegt am Ende ihren Verletzungen. Jahre später besucht Rufus, der in den USA Karriere gemacht hat, ihr Grab.
Es ist eine Story scheinbar ohne Zwischentöne, vom Leben in den Extremzonen der Gefühle. Das wäre alles nur laut und grell, hätte Kränzler nicht in diese großen Gesten fein ausziselierte Sprach- und Erzählmuster eingearbeitet. Die Kapitel nehmen paarweise aufeinander Bezug, das eine erzählt aus Liliths, das andere aus Rufus' Perspektive, ihre Überschriften antworten sich wie Echos.
Mutige Bilderfindungen ("Er ist die Schutzmembran, die ihre brüchigen Zellwände vor dem Einsturz bewahrt") stehen neben Protokollen banaler elterlicher Belehrungen, und in der schönen Courier-Schrift längst vergangener Schreibmaschinenzeiten sind auch noch verstreute Aufzeichnungen Liliths eingefügt, die für sich wiederum einige literarische Ambition vermuten lassen. Vielleicht macht dies die Spannung von Kränzlers Erzählen aus: der Gegensatz zwischen dem ganz Groben und dem ganz Feinen, zwischen dem trivialen Plot und seiner artifiziellen Ausgestaltung, zwischen dem expressiven Erzählen und der strengen Konstruktion.
Es braucht eine Weile, bis man diese Muster erkennt. Aber dann kann man nur staunen, mit welcher Konsequenz Lisa Kränzler schon jetzt ihre ganz eigene Kunst des Erzählens gefunden hat.