

Selbstopferung und Sprengstoffattentate
Florian Baranyi in FALTER 41/2017 vom 13.10.2017 (S. 35)
Kulturgeschichte: Thomas Macho deutet in „Das Leben nehmen“ die Selbsttötung als Movens der Moderne
Thomas Macho legt mit seinem neuen Buch eine enzyklopädische Studie zum Suizid vor. Hier muss man präzisieren: Macho, Leiter des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien (IFK) und ehemaliger Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin, schreibt eine Studie zum Suizid in der Moderne, wobei er sich natürlich nicht damit begnügt, einen zeitlichen Fluchtpunkt seiner Beobachtungen einzuziehen, sondern an Walter Benjamin angelehnt den Versuch unternimmt, die Selbsttötung als „Leitmotiv“ der philosophischen, künstlerischen, wissenschaftlichen und ereignisgeschichtlichen Moderne zu verstehen.
Folgerichtig lässt Macho die Moderne mit der moralischen Umwertung des Suizids während der Aufklärung beginnen, als Friedrich II. 1751 – im Beisein seines Korrespondenzpartners Voltaire – die Suizidstrafen aufhebt. Die vormoderne Bewertung des Suizids hatte die Selbsttötung immer als Schuld begriffen, als Vergehen gegen jemanden, der einen Anspruch auf das eigene Leben hat. Solche Ansprüche wurden von Herrschern, Religion oder Eltern an das Individuum herangetragen, dem das eigene Leben nicht gänzlich gehörte.
Der Kulturhistoriker Macho liefert einen Abriss der moralischen Bewertung des Suizids in der Vormoderne, von der Antike bis zur Aufklärung, in der wesentlich die katholische Sichtweise als „Doppelmord an Seele und Körper“ vorherrschte. Dabei zeigt sich schon hier Machos große philosophische Sensibilität für die kulturelle Rolle des Suizids. Er erinnert nämlich daran, wie dieser in Formen des Martyriums im Kern des Katholizismus steckt.
Stets hat es kulturell positiv bewertete Formen der Selbsttötung gegeben, wenn diese wie beim antiken Heldentod oder eben bei den Märtyrern als Form der altruistischen Selbstopferung begriffen werden konnte. In der Moderne wird der moralisch untadelige Freitod jedenfalls zum medialen und philosophischen Faszinosum. Macho untersucht etwa den „Werther-Effekt“, also die suizidalen Nachahmungstaten, die nach romantisierenden oder heroisierenden Suiziddarstellungen wie beispielsweise in Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ (1774) registriert werden. Machos Deutung zeigt hier vor allem eins: in wie großem Ausmaß Imagination und Fiktion mit der Selbsttötung zu tun haben.
Suizidvorstellungen beruhen auf einer Spaltung des Subjekts in ein „lebendes“ und ein „totes“ Ich. Sich den eigenen Freitod vorzustellen heißt vor allem, gedanklich über sich selbst zu verfügen. Das erklärt die epidemische Kraft des „Werther-Effekts“, die Macho in die Nähe von Pestepidemien rückt. Überhaupt ist in Machos Kulturgeschichte oft mehr von allgemeiner Todesfaszination als von Suizid die Rede.
Kenntnisreich beleuchtet er hierbei besondere Hotspots von Totenkulten, wie sie im Umfeld der Weltkriege entstanden. Rund um die Katastrophen des 20. Jahrhunderts leuchtet Macho dabei einen Komplex aus, der den Anstieg von Schülersuiziden um 1900, die Todessehnsucht im Selbstverständnis des europäischen Faschismus, die deutlich gestiegenen Suizidzahlen in der deutschen und japanischen Bevölkerung nach Ende des Zweiten Weltkriegs und die Taten der RAF-Terroristen als plausibles Kontinuum erscheinen lässt.
Alleine für diese Deutungsleistung lohnt sich die Lektüre des Buches, die mitunter etwas stockend vorangeht, schließlich wechselt Macho zwischen etlichen Disziplinen und Wissensgebieten und verarbeitet eine unüberschaubare Menge an Quellen, was die Vorbildung des Lesers mitunter auf eine harte Probe stellt und zu durchaus produktiver Überforderung führt. Dabei scheut der Gelehrte an keiner Stelle vor großen Thesen zurück und entwirft en passant eine kleine Geschichte und Theorie der Fiktion, deren Entstehen er vor 70.000 Jahren bei der Vermischung von Homo sapiens und Homo neanderthalensis ansetzt – eigentlich der Stoff für ein eigenes Buch.
Macho, für den Kultur so etwas wie ein lebendiger Flickenteppich scheint, den er bei Bedarf in jeder Faser analysieren kann, legt in so gut wie jeder Konstellation des 20. Jahrhunderts einen suizidalen Antrieb frei. Mit seinem originellen Blick wird dabei die atomare Aufrüstung zum impliziten Suizidversuch der gesamten Menschheit. Das Kapitel zum suizidalen Terrorismus entwickelt neben einer Geschichte des Sprengstoffattentats eine überzeugende Genealogie des Selbstmordattentats aus dem Geist des Nihilismus.
Das Kapitel zum Suizid in den Künsten begnügt sich nicht mit einer „Leistungsschau“ von suizidalen Sujets in bildender Kunst, Film und Literatur, sondern rückt die Ästhetik der Moderne insgesamt in die strukturelle Nähe des Suizids. So sei dieser in gewisser Weise der Wunsch, das eigene Leben zur Totalität, zum Abgeschlossenen zu machen. Genauso verhalte es sich beim Kunstwerk, das der Künstler sozusagen als kleines Leben im Leben beenden wolle.
Einer der vielen Vorzüge der Studie liegt darin, dass Macho so gründlich recherchiert hat, dass er stets Daten und Zahlen zum Suizid angeben kann. Wer etwa wissen will, ob seine Vermutung richtig ist, wie viele Lebensmüde sich jedes Jahr von der Golden Gate Bridge stürzen, kann das bei Macho überprüfen.
Solche nützlichen Details werden aber nur zwischen tausenden Zeilen preisgegeben, die Macho gekonnt füllt. Wer schnelle Information zum Faszinosum der Selbsttötung sucht, wird enttäuscht werden. Alle Leser, die eine bravouröse Kulturgeschichte des Suizids und der Moderne gleichermaßen suchen, sollten zugreifen.