

Über weite Strecken substanzloses Geklingel
Rudolf Walther in FALTER 30/2017 vom 26.07.2017 (S. 17)
Die überschaubare Sloterdijk-Gemeinde sollte ihre Vorfreude auf den „neuen Sloterdijk“ zügeln
Was unter dem Titel „Nach Gott“ das Suhrkamp-Röhrensystem verlassen hat, entspricht dem, was Sloterdijk in anderem Zusammenhang einen „Zweit-Abfluss“ nennt: Bei den zwölf Texten handelt es sich um Nachdrucke von Kapiteln und Vorträgen aus früheren Büchern.
Neu ist genau ein Beitrag; der handelt von der Ersetzung der Götter zuerst durch menschliche Intelligenz und dann durch Maschinenintelligenz. Bei der Maschinenintelligenz vertraut Sloterdijk auf die Spekulationen des Philosophen Gotthard Günther (1900–1984), der meinte, das Subjekt gewinne aus dem, was es an Intelligenz an Maschinen abtrete, weil ihm dadurch und danach „aus einer unerschöpflichen und bodenlosen Innerlichkeit immer neue Kräfte der Reflexion zufließen“.
Ein Kapitel lässt Sloterdijk aus seinem gut 2500 Seiten langen „Sphären“-Gemurmel nachdrucken. Wie man den Autor kennt, wäre es ein Wunder, wenn er im Luther-Jahr nicht auch ein älteres Sendschreiben gegen den Reformator gefunden hätte. Im Anschluss an ein paar Antiquitäten der „philosophischen Anthropologie“, die zu wissen vorgibt, was „der“ Mensch und „das Mensch-Sein“ bedeuten, fasst Sloterdijk den Menschen als „das Tier, das so tut als ob“. Deshalb gehört für Sloterdijk Heuchelei zur Grundausstattung des Subjekts, das immer auch Schauspieler ist gegenüber der doppelten Dauerbeobachtung: erstens durch sich selbst und zweitens „von oben“, durch den überweltlichen Gott. Die Selbstbeobachtung führt „fast unvermeidlich ins Elend der Selbstverwerfung“. Welt- und Lebensverneinung seien deshalb charakteristische Bestandteile aller Religionen.
In Luthers Thesen von 1517 sieht der Philosoph „nichts anderes als eifernd (...) haarspalterische Einlassungen zu Fragen der äußerlichen und innerlichen Buß-Verwaltung“. Der Reduktionsformel „nichts anderes als“ begegnet der Leser auf Schritt und Tritt. Heuchelei bilde das Zentrum der Reformation, weil der bußfertige Sünder vom bloßen Heuchler nicht zu unterscheiden sei. Außer auf das regressive Luthertum verweist Sloterdijk auf dessen progressive Folgen in Philosophie, Literatur und Musik von Leibniz, Lessing und Kant bis zu Hegel und Bach. Im Protestantismus der Gegenwart lockerte sich die Dauerbeobachtung von oben. An deren Stelle trat „das massenhafte Streben nach horizontaler Aufmerksamkeit“ und damit „ein Aufstand der Massenkultur gegen die Hochkultur“, den Sloterdijk als „Feldzug der Unzufriedenen gegen die ‚Eliten‘“ zurechtredet.
Schlechter als Luther ergeht es nur Jesus und den Evangelisten. Jesus sei das „schrecklichste Kind der Weltgeschichte“, seine Jünger bildeten eine verantwortungslos dichtende „Wanderkommune“.
Im Kapitel „Epochen der Beseelung“ rechnet Sloterdijk mit der Psychoanalyse und anderen Formen der Psychotherapie ab. Sie sind für ihn Praktiken „nachholender Beseelung“, die dem Patienten eine bessere Zukunft im „gelobten Land“ versprechen wie einst Moses den Israeliten ihr Kanaan. Mit solchen „geistreichelnden“ Kalauern redet sich Sloterdijk auf und ab durch die Welt- und Religionsgeschichte.
Als Epoche der Beseelung gilt ihm auch die Aufklärung mit ihrem „Ideal der Mündigkeit“. Dabei tritt er allerdings in die Falle vulgär-etymologischer Scharlatanerie. Er führt das Wort „Mündigkeit“ auf „Mund“ zurück und spricht von ihr als „Phantasma der in die politische Sphäre verlängerten Oralität“. Mit „Mund“ haben die Wörter „Vormund“ oder „mundtot“ aber nichts zu tun. Im Alt- und Mittelhochdeutschen meinte munt „Hand“ und „Schutz“; „mündig“ bedeutet „fähig, sich selbst zu schützen und rechtlich zu vertreten“. Das Gegenteil war „mundtot“, also „unfähig Rechtshandlungen auszuführen“ und nicht „zum Schweigen bringen“, wie der Ausdruck heute suggeriert. Sloterdijks Versuch, „Mündigkeit“ mit dem „dritten Ohr“ des Vulgär-Etymologen als orale Selbstüberschätzung und Großsprecherei zu denunzieren, ist ein Schlag ins Wasser. Spekulationen über den Zusammenhang der „oralen Schicksale des Menschen mit dem Weltlauf moderner Epochen“ sind substanzloses Geklingel, wie über weite Strecken das ganze Buch.