

Unterschiedliche Grade der Düsternis
Christoph Bartmann in FALTER 41/2017 vom 13.10.2017 (S. 31)
In seinem Roman „Das Ende“ schildert Attila Bartis den ungarischen Gulaschkommunismus als bleierne Zeit
Drei Menschen hätten über sein Leben entschieden, sagt András Szabad, der Ich-Erzähler in Attila Bartis’ Roman „Das Ende“: „Mein Vater, János Kádár und Gagarin.“
Der Vater wird nach dem ungarischen Volksaufstand 1956 verhaftet, kommt erst nach Jahren aus der Haft zurück und wird sich nicht mehr erholen. Janos Kádár regiert als Erster Sekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei das Land von 1956 fast bis zu seinem Tod im Jahre 1989. Und Juri Gagarin, Idol der sozialistischen Jugend, fliegt 1961 als erster Mensch ins All.
Zuvor hatte die Sowjetunion schon die Hündin Laika in den Weltraum geschickt. Laika/Leica: Manchmal spricht der Fotograf András Szabad mit seiner Kamera wie mit einem Hund. „Einer der enttäuschendsten Augenblicke meines Lebens war vermutlich, als ich meinen Fotoapparat streichelte.“ Das will etwas heißen, denn András’ Leben ist reich an unspektakulären Erlebnissen, die ihm als die enttäuschendsten oder grauenhaftesten in Erinnerung sind.
15 Jahre hat der Schriftsteller und Fotograf Bartis an diesem monumentalen ungarischen Zeitgeschichts-, Familien- und Künstlerroman gearbeitet. Bartis ist 1968 geboren, sein Protagonist ein Vierteljahrhundert früher. 52 Jahre später, am Beginn des Romans, sitzt er gerade im Taxi zum Budapester Flughafen. In Stockholm will er sich bei einem Spezialisten untersuchen lassen, nachdem die Ärzte zu Hause schlechte Laborwerte festgestellt hatten.
Es bleibt unklar, ob András’ Ende nah ist, jedenfalls scheint er selbst mit dem Leben abgeschlossen zu haben. Schon Kádárs Tod hatte bei ihm ein Gefühl von „Ende“ ausgelöst, als sei mit diesem auch seine eigene Gegenwart untergegangen. Sechs Jahre später senkt sich auch über sein privates Leben der Vorhang. „Seit zwei Jahren mache ich keine Fotos mehr. Seitdem Éva gestorben ist.“
Sein bester und vielleicht einziger Freund, der Dichter Kornél, hat ihm geraten, er solle sein Leben niederschreiben. Was András dann auch tut, in einer nicht-linearen Abfolge kurzer Kapitel, die durch knappeste, in Klammern gesetzte Titel „(Budapest, Herbst 1960)“ voneinander abgesetzt sind. Zwei Teile hat der Roman: das Leben vor Éva und das Leben seit Éva. Éva, die Konzertpianistin, und András, der Fotograf, sind zwei ähnlich verlorene Seelen, die es nicht miteinander und nicht ohne einander aushalten werden.
Budapest, Herbst 1960: „Aus jener Zeit erinnere ich mich eigentlich nur an die Dunkelheit“, schreibt der Erzähler. Es wird nie wirklich hell in diesem Roman, es gibt allenfalls unterschiedliche Grade der Düsternis. Das hat auch mit der schwermütigen, verletzlichen und jäh-aggressiven Art der Hauptfigur zu tun, doch der tiefere Grund scheint in den ungarischen Verhältnissen dieser Jahrzehnte zu liegen: Selbst die Figuren, die keinen Hang zur Schwermut haben, sind nicht froh, sondern allenfalls mal etwas weniger verzweifelt.
Für András, der mit seinen Eltern in einer ungarischen Provinzstadt lebt, ändert das Jahr 1956 alles. Der Vater kommt in Haft und kehrt als gebrochener, psychisch kranker Mann zurück. Die Mutter stirbt früh. Die beiden Hinterbliebenen ziehen nach Budapest, wo der Vater sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und manchmal Besuch bekommt von Freunden aus der Opposition, die genauso gut Spitzel sein könnten.
Der sogenannte Gulaschkommunismus der Kádár-Jahre zeigt sich in Bartis’ Roman als eine ausgesprochen bleierne Zeit. Zur Hoffnung gibt es keinen Anlass, aber für András tun sich dann doch Exit-Strategien aus der ungarischen Malaise auf. Er findet sie in der Dunkelkammer eines Budapester Fotografen, wo er sein Handwerk lernt. András Szabad wird später ein berühmter Fotograf werden, gefeiert im Ausland, hofiert vom Regime zu Hause, was ihn auch nicht glücklich macht.
Aber Glück ist hier auch nicht das Maß der Dinge. Bartis’ Held ist ein Angry Young Man, der sich politisch bedeckt hält und sein Außenseitertum in allerlei brüsken sexuellen Abenteuern auslebt. Es wird viel gevögelt in Bartis’ Roman, auf eine bestimmte ostblock-existenzialistische Art, in der sich die Liebenden beim Akt, wenn sie denn reden, fast nur beschimpfen. Die eigentliche erotische Tätigkeit ist hingegen das Fotografieren.
Ein Problem des Künstlerromans besteht darin, dass man nicht weiß, was die Kunst taugt, von der dort bloß die Rede sein kann. Später, als er schon ziemlich berühmt ist, soll András bei einer Preisverleihung sprechen. Als Thema schwebt ihm vor: „Die Fotografie als abgestumpfter Tod“. Eine schwere Parfümwolke aus (männlicher) Erotik, Melancholie und Magie des Augenblicks umhüllt hier das Künstlertum. Aber das gehört wohl zu dem Epochenbild, das Bartis entwirft. Über András Szabad ist die Zeit hinweggegangen. Das Ende des Romantitels ist auch das Ende seiner Ära.
„Das Ende“ ist keine leichte Kost. Aber warum sollte Attila Bartis 15 Jahre an der Verfertigung von Unterhaltungsliteratur gearbeitet haben? Ihm ging es vielmehr ums Ganze einer Erfahrung, von der er oder sein Held glauben, dass sie typisch sei: „der Prototyp der ungarischen Familiengeschichte. Wenn nicht der mitteleuropäischen, nichtjüdischen Familiengeschichte aus der Mittelklasse.“ Atmosphärisch dicht ist sein Roman, reich an Details, komplex in seiner Moral. Es wird nie wirklich hell, aber man blickt trotzdem tief hinein in eine Welt, die einen nicht gleichgültig lassen kann. Terézia Mora hat Bartis’ Roman in ein geschmeidiges Deutsch übersetzt, das bei aller Düsternis fast beschwingt klingt.