
Wörter in der Hand wie Murmeln
Erich Klein in FALTER 12/2018 vom 21.03.2018 (S. 30)
Beim Tod eines geliebten Menschen geht nicht nur dessen Welt unter, auch der Überlebende muss seine eigene neu erschaffen. Esther Kinskys „Geländeroman“, der nun mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet wurde, erzählt davon in 40 zu drei Reisen gruppierten Prosastücken auf höchst intime und zugleich fast unpersönliche Weise. Martin Chalmers, der 2014 verstorbene Ehemann, ist gleichermaßen abwesend wie omnipräsent.
Die Fahrt beginnt im Norden und führt durch den verschneit-verregneten Böhmerwald ins „Jenseits-der-Alpen-Licht“. Nur kurz outet sich die Ich-Erzählerin als „Hinterbliebene“ – wenig später wird sie von Trauer überwältigt: „Italien ist ein Land, in dem wir nie zusammen gereist waren.“ Bei einem Stopp wird das Autofenster eingeschlagen, die Koffer, in dem sich auch „Kleidungsstücke von M.“ befanden, werden gestohlen. Erste Station eines längeren Aufenthalts ist die Kleinstadt Olevano in Latium, einst Sehnsuchtsort der sogenannten Deutschrömer.
Anders als die Maler des Klassizismus, die dort nach idealen Landschaftsbildern suchten, setzt Kinsky auf Registratur eines betont gegenwärtigen Alltags: Der Frühstückskaffee, ein Blick aus dem Fenster, die örtliche Metzgerei werden beschrieben. Eine kurze Flucht nach Rom mutiert zum Ausflug inklusive Rückkehr aufs Land, wo gerade ein Olivenhain geschnitten wird. Der Symbolismus von „Schnitter Tod“ und „Freund Hein“ wird dabei kurz gestreift, doch die Erzählerin bleibt rigoros im Diesseits der Außenweltbetrachtung: „Anfang März beginnen die Mimosen an den Südhängen in Olevano zu blühen. Gelbe Wolken im Brombeergebüsch zwischen zwergichtem Immergrün.“
Weitere Schauplätze von „Hain“: das lombardische Dorf Chiavenna als Kulisse für Kindheitserinnerungen und schließlich Ferrara und die Felder zur Salzgewinnung in der Po-Mündung. Deren Beschreibung gerät zu einem wahrhaften Fest an winterlicher Naturschilderung – in der Gegenwartsliteratur lässt sich kaum Vergleichbares finden. Wie heißt es da einmal: „die Wörter rollen in der Hand wie Murmeln“.


