

Magisches Denken und die Grenze zum Wahnsinn
Kirstin Breitenfellner in FALTER 22/2018 vom 30.05.2018 (S. 35)
Samanta Schweblin, 1978 in Buenos Aires geboren, lebt in Berlin und legte zwei erfolgreiche Erzählbände vor, bevor ihr 2015 mit einem 127 schmalen Romandebüt der Durchbruch gelang. „Gift“ erschien gleichzeitig in 20 Sprachen und schaffte es auf die Shortlist des Man Booker International Prize. Es ist ein atemberaubendes, beklemmendes Stück Literatur über Kinder, die vermutlich vergiftetes Wasser getrunken haben und daran gestorben sind. Schweblin beherrscht, hierin an Franz Kafka erinnernd, die Kunst, den Leser mit wenigen lakonischen Worten in bedrückende, ausweglose Situationen zu versetzen, die sich erst im Laufe der Lektüre erschließen und deren letztes Geheimnis die Autorin stets für sich behält. So auch in ihrem neuen Erzählband „Sieben leere Häuser“, in dem sich Menschen in absurden Settings wiederfinden, ohne diese als ungewöhnlich wahrzunehmen. Eine junge Frau dringt mit ihrer Mutter in fremde Häuser und Gärten ein, aus denen sie Dinge entwendet. Eine Geschiedene kehrt in ihr Haus zurück, um ihre Kinder abzuholen, aber diese tanzen mit den Eltern ihres Ex-Mannes nackt im Garten, bevor sie plötzlich verschwunden sind.
In der längsten der sieben Erzählungen versucht eine alte Frau zu sterben, indem sie sich Listen mit Vorsätzen macht: „Alles sortieren. Entbehrliches weggeben. Das Wichtige einpacken. Sich auf den Tod konzentrieren. Ihn ignorieren, falls er sich einmischt.“ Langsam und unmerklich verliert sie den Sinn für die Realität.
Fantasie hat in der bedrückenden Welt Schweblins nichts Tröstendes. Und die Realität verweigert sich konstant der Entschlüsselung durch ihre Protagonisten. Sie finden keinen Weg, keinen Rhythmus und schon gar keine Geborgenheit. Dafür leiden sie unter Zwängen, sind anfällig für magisches Denken oder schlichtweg wahnsinnig. Das Unheimliche beim Lesen resultiert daraus, dass sie nicht verrückt genug sind, um keine Assoziationen zu unserem Alltagsbewusstsein zu wecken. Damit erinnern sie daran, dass die Realität immer nur eine Interpretation äußerer Gegebenheiten ist.