

Der Preis weiblicher Freiheit
Florian Baranyi in FALTER 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 12)
Als „Las maravillas“ 2020 erschien, überschlug sich die spanische Kritik vor Begeisterung: Medel war bis dahin als kompromisslose Dichterin und Verlegerin der kleinen Lyrikedition La Bella Varsovia bekannt. In elf Kapiteln auf unterschiedlichen Zeitebenen durchmisst Medel in ihrem Debütroman das Leben dreier Frauen aus einer Familie, deren Freiheiten nur allzu deutlich eingehegt werden: von der späten Etappe des Franquismus 1969 bis zur jüngsten, noch von der Eurokrise belasteten Vergangenheit, die Medel bis 2018 verfolgt. Zwischen María und ihrer Enkelin Alica bleibt Marías Tochter Carmen der erzählerische Scheitelpunkt zwischen den beiden: Opfer der Älteren und Täterin gegenüber der anderen.
Der Ursprung dieser gehörig zerrütteten Konstellation ist bereits im patriarchalen, nationalkatholischen Moralverständnis des spanischen Faschismus angelegt. Als Jugendliche wird María in ihrer Heimatstadt Córdoba schwanger. Ihre Familie drängt sie, sich in Madrid eine Arbeit zu suchen, während ihre eigene Tochter bei den Großeltern aufwächst.
María ist die personifizierte Systemerhalterin, erst Kindermädchen, dann Altenpflegerin, schließlich Putzfrau. Zugleich vollzieht sie eine langsame Emanzipation, engagiert sich in einer Bürgerinitiative, reduziert den Kontakt zur Familie, die sie verstoßen hat, auf ein Minimum. Zugleich macht Medel mit geschickt über die Jahrzehnte verteilten Schlaglichtern deutlich, wie prekär diese Freiräume bleiben und zu welchem Preis María diese verteidigt: Die Entfremdung von ihrer Tochter geht so weit, dass sie ihre Enkelin nie zu sehen bekommt; und auch im fortgeschrittenen Alter muss sie ihre Entscheidung, allein zu wohnen, noch gegen ihren Partner verteidigen.
Man kann sich das Verhältnis der drei Frauengenerationen wie eine Sinuswelle vorstellen, die den sozialen und ökonomischen Status beschreibt: Während María beim Minimum startet, um sich hinaufzuarbeiten, wird Carmen, die die Geschichte ihrer Mutter zu wiederholen scheint, durch ihren Mann Teil der prosperierenden oberen Mittelklasse, wodurch die Enkelin Alicia in ein neureiches Setting geboren wird.
Eine Tragödie in der Familie offenbart freilich, dass dieser Wohlstand nur auf Sand gebaut war; auch das ein Befund, der sich weit über das Einzelschicksal hinaus auf die gesamte Gesellschaft übertragen lässt, so wie hier jedes Schicksal emblematisch auf Umbrüche in Spanien hin lesbar ist.
Dabei bleibt die subtile sprachliche Brillanz der Lyrikern Medel immer spürbar: „Die Wunder“ liest sich leicht und flüssig, jeder Satz ist rhythmisch durchkomponiert. Wobei erst der Blick auf das spanische Original die außergewöhnliche Qualität von Susanne Langes Übersetzung wirklich erschließt: Nur selten gelingt es, so nahe am Klang der Ausgangssprache zu bleiben.
Alicia arbeitet als Verkäuferin, lebt in einer unspektakulären Ehe und vertreibt sich die Zeit mit spontanen Affären, die ihr ein Gefühl von Freiheit vermitteln. Die gekonnt konstruierten Korrespondenzen zwischen ihr und ihrer Großmutter erhellen die Unterschiede: Während es für María ein Sieg war, mit den Männern der Bürgerbewegung in einer Bar zu diskutieren, hat Alicia keine Lust, mit ihrem Mann und dessen Freunden auszugehen – lieber will sie Zeit für sich selbst haben. Und während Sexualität für María ein Element der Unterdrückung darstellt, ist sie für Alicia eine Waffe, die sie – wenn auch im Stillen – zur Rebellion nutzt.
Der Sukkus dieses politischen Spiels des Auf und Ab, der Parallelen und Verschiebungen ist allerdings bitter: „Es geht nicht um Familie, nicht um Liebe: Es geht um Geld“ – Freiheit ist gekoppelt an Liquidität. Oder wie es das vorangestellte Motto des englischen Dichters Philip Larkin formuliert: „Clearly money has something to do with life.“