

Vom Sterben im Schweben
Stefanie Panzenböck in FALTER 6/2023 vom 08.02.2023 (S. 35)
Rauch und Gestank schweben dicht über dem Erdboden, Menschen erzählen vom Schweben im Drogenrausch, Vögel fliegen nicht mehr, sie schweben. In Sarajevo ist das Schweben das Sterben.
In der bosnischen Hauptstadt beginnt Anfang April 1992 der Krieg. Wenige Tage zuvor empfängt der Dichter Rajko Šurup ebendort den berühmten walisischen Altphilologen Peter Hurd; Šurup verehrt ihn als unerreichte Geistesgröße und übersetzt dessen Bücher. Als die ersten Schüsse fallen, ist Hurd noch in Sarajevo und beschließt seltsam euphorisiert, die Stadt nicht zu verlassen. "Welcome to Hell", kommentiert Rajko die Entscheidung seines Idols.
In diesem Spannungsfeld - dem Egotrip des einen und dem Schmerz des anderen -spielt "Einübung ins Schweben", der große neue Roman des bosnischen Schriftstellers Dževad Karahasan. Wie verändert Krieg einen Menschen? Und was bedeutete dieser spezielle Krieg über 30 Jahre nach Beginn der Belagerung?
Die Form ist einfach und klug gewählt; Rajko fungiert als Erzähler und berichtet im Rückblick von seinen Erlebnissen 1992 und 1993. Die enge und konfliktreiche Beziehung zwischen Rajko und Peter eröffnet nicht nur eine zweite Ebene, sondern ein ganzes Spektrum an Betrachtungen des Krieges.
"Einübung ins Schweben" muss Sarajevo zum Zentrum haben. Karahasan, der in den 1970ern aus dem Westen Bosnien-Herzegowinas dorthin übersiedelte, verbindet eine tiefe Liebe mit der Stadt, der er etwa in "Tagebuch der Übersiedlung" (erstmals 1993 als "Tagebuch der Aussiedlung" erschienen) Ausdruck verlieh. Er erzählt darin von einer verwundeten Stadt im Zustand der Belagerung, die "aus einer Wirklichkeit in eine Idealität übersiedelt ist", wie der Autor in einem Falter-Interview ausführte. Somit existiere sie nur noch in der Erinnerung und der Sehnsucht von Menschen, die einst in ihr lebten.
Hat der 70-Jährige damals einzelne Geschichten und Essays zu einem unvergleichlichen Porträt Sarajevos zusammengefügt, so legt er nun den großen Roman vor. Die Stadt ist darin auch ein Ort, an dem sich der Krieg an sich zeigt -und alles, was er auszulösen vermag.
Der Gelehrte Hurd missbraucht Menschen, über die der Krieg hereinbricht, für eine rücksichtslose Verwirklichung dessen, was er Freiheit nennt: Ganz im Gegensatz zu seinem Freund und dessen Familie ist ihm die Rücksichts-und Gesetzlosigkeit der Stadt im Krieg nicht Bedrohung, sondern Genuss. Er gehört zu den wenigen, die sowohl Drogen als auch teures Essen im Übermaß bekommen. Am Ende begeht er womöglich ein Verbrechen. Eindringlich beschreibt Karahasan diese Selbstaufgabe eines Geistesmenschen.
Sein aus Sarajevo stammender Bewunderer hat dem Zynismus seines Freundes kaum etwas entgegenzusetzen; letztlich resigniert er vor dessen körperlicher und geistiger Verwahrlosung. "Was soll jemand wie ich in einer Welt tun, in der sich Geistesgrößen in etwas zwischen einem kranken Tier, einem Gegenstand und einem unschuldigen Kind verwandeln?", fragt Rajko, der seinen Freund trotz allem nie verlässt.
In diese Beziehung verwebt Karahasan weitere Beobachtungen. Rajko bemerkt etwa, wie Menschen ihr Redeverhalten im Krieg verändern. "Ein Mensch, der sein ganzes Leben lang schweigsam wie ein Fisch war, ließ nach zehn Tagen Krieg niemanden mehr zu Wort kommen. Während ein anderer, der als unerträglicher Schwätzer bekannt war, in Schweigen versank, als hätten ihm die Unbilden des Krieges sowohl den Willen als auch die Fähigkeit zu sprechen genommen."
Doch die Gräben sind tiefer. "Warum teilte sich die Gesellschaft in Sarajevo damals derart radikal in jene, die raffen, rauben, retten und sich aneignen, und jene, die sorgsam darauf bedacht sind, dass ihnen auch nicht eine Zigarette in die Hände gerät, die nicht ihnen gehört? Warum waren in der ganzen Stadt keine drei Menschen zu finden, die irgendwo zwischen diesen beiden Gruppen gestanden hätten?"
Karahasan spielt seine Erzählkunst eindrucksvoll aus. Er verweilt in einer Situation, dreht sie in alle Richtungen, dann ereignet sich Unglaubliches. Anstatt des Bräutigams ist da nur ein blutiges Hemd bei der Hochzeit; ein allseits beliebter Mann wird getötet, "und nach dem Einschlag der Granate wären über der Stelle, an der Šaćir gestanden hatte, ganze Wolken roter Blütenblätter aufgestiegen. Als hätte die Granate in einen blühenden Kirschbaum eingeschlagen, der irrtümlich rot blühte".
Peter und Rajko schaffen es, Bosnien-Herzegowina zu verlassen. Der Gelehrte flüchtet sich in den Wahnsinn, dem Dichter bleibt nichts. Nur die Sehnsucht nach einer verlorenen Stadt.