

Hört auf diese Frau!
Eva Konzett in FALTER 20/2023 vom 19.05.2023 (S. 14)
Isabella Weber verspricht, alle Fragen ausführlich zu beantworten, aber zuerst braucht die Ökonomin ein Mittagessen. Die Stunden zuvor war sie abgelenkt gewesen, ein Termin, ein kleiner Disput auf Twitter, später wird sie Bilder aus dem Garten des Bruno Kreisky Forums posten, wo sie an diesem Abend noch einen Vortrag hält, jetzt aber muss es zuerst zumindest ein Imbiss sein. Es ist halb fünf Uhr. Weber bestellt Apfelstrudel und Melange in einem Wiener Kaffeehaus. Für warme Hauptmahlzeiten hat sie gerade keine Zeit. Die 35-jährige deutsche Ökonomin, die an der amerikanischen University of Massachusetts Amherst lehrt, ist der - umstrittene - Shootingstar in der internationalen Ökonomenzunft. Jung. Weiblich. Mit unorthodoxen Ideen. Als "Erfinderin" der Gaspreisbremse wird sie herumgereicht.
Im April ist die deutsche Übersetzung ihres Buches "Das Gespenst der Inflation: Wie China der Schocktherapie entkam" erschienen. Deshalb die vielen Termine, deshalb die Ochsentour durch Österreich und Deutschland.
Eigentlich verarbeitet Weber in dem Buch ihre jahrelange Forschung zur chinesischen Wirtschaftspolitik und wie China der Übertritt in die Marktwirtschaft gelang -und das ohne Megaschocks, wie sie etwa die ehedem planwirtschaftlich organisierten Nachfolgestaaten des Warschauer Paktes oder der UdSSR erleben mussten.
Und doch liefert das Buch darüber hinaus Antworten auf die Gegenwart. Zum Beispiel diese: In der heutigen Vielfachkrise aus Pandemie-Nachwehen, russischem Angriff auf die Ukraine, geopolitischer Neuaufstellung und dem fast schon verdrängten Klimawandel greifen die herkömmlichen, in den vergangenen 40 Jahren kanonisierten wirtschaftspolitischen Instrumente nicht mehr, die maßgeblich den Markt über die Politik stellten.
Und sie greifen besonders dann nicht, wenn es um die Inflation geht, jene ökonomische Messgröße mit unkontrollierbarer gesellschaftlicher Sprengkraft. Oder wie Weber es ausdrückt: "Wenn Menschen, die arbeiten wie jeher, das Gefühl haben, zwischen Miete und Gasrechnung und einer Packung Toast entscheiden zu müssen, dann macht das was mit ihnen. Dann bricht das Vertrauen in die gesellschaftliche Ordnung, dann bricht ein wichtiger Teil des Gesellschaftsvertrags."
Weber plädiert deshalb dafür, in der Wirtschaftspolitik die "ideengeschichtliche" Enge zu verlassen und sich Anleihen in der Geschichte zu holen. Etwa bei den Amerikanern, die Preiskontrollen in den 1940er-Jahren beim Übergang von der Kriegswirtschaft in die Friedenszeit eingesetzt haben, oder bei China, das seit den 1970er-Jahren seine Wirtschaft vom Plan zum Profitstreben umbaut -ohne in der Hyperinflation zu landen. Webers Idee zur Gaspreisbremse mit gedeckeltem Kontingent und Überschuss zu Marktpreisen hat Weber aus den chinesischen Lehren entnommen -und ganz wenig umstürzlerisch aus dem Fundus des CDU-Urgesteins Ludwig Erhard.
Für den Mainstream-geschulten Ökonomen ist aber allein der Begriff der Preiskontrolle ein Sakrileg. Als Weber im Dezember 2021, noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, im britischen Guardian angesichts der damals schon wesentlichen Teuerung Preiskontrollen einmahnte, nannte das sogar der Wirtschaftsnobelpreisträger und Leuchtstrahl der Linksliberalen, Paul Krugman, "dumm" (später entschuldigte er sich dafür). Es war eines der milderen Urteile.
Als Weber an diesem Nachmittag vergangene Woche im Mai, keine zwei Jahre später, die Gabel in den Apfelstrudel sticht, wirkt die von ihr initiierte Gaspreisbremse schon in Deutschland (und deren kleine Strompreisbremsenschwester in Österreich), Italien hat Preiskontrollen bei Kraftstoffen eingeführt, Griechenland und Bulgarien bei Lebensmitteln. Hierzulande scheiterte eine Mietkostenbremse nur noch an Klientelinteressen der ÖVP. Vor kurzem erst hat die grüne Klubobfrau Sigrid Maurer eine Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel in der ORF-"Pressestunde" immerhin eine "Ultima Ratio" genannt. Die in Nürnberg in einfachen Verhältnissen geborene und an amerikanischen Eliteuniversitäten und an der University of Peking geschulte Volkswirtin Weber arbeitet als jüngstes Mitglied in der Gaspreisexpertenkommission der deutschen Bundesregierung mit. Man kann es auch so sagen: Webers "dumme" Ideen sind heute wirtschaftspolitische Realität.
Vielleicht ist das Interesse an Weber deshalb so groß, weil sie die Veränderung verkörpert, die in der Ökonomie offensichtlich wird. Jahrzehntelange wirtschaftspolitische Selbstverständlichkeiten wie das Primat des Preises verschwimmen, neoliberale Grundtugenden wie Kosteneffizienz müssen der Versorgungssicherheit weichen (wie etwa beim Gas), der eigent lich sakrosankte Markt schafft es augenscheinlich nicht mehr, die Dinge auszubalancieren. Es waren Angebotsschocks, die die aktuellen Inflationsverwerfungen ausgelöst haben.
Das Problem an der Sache: Die Inflation droht sich zu verfestigen. Sie tritt jetzt in die dritte Phase ein.
Man muss die aktuelle Inflation in ihrer Entwicklung unterscheiden. Am Anfang standen eben Angebotsschocks durch kaputte Lieferketten, di den Post-Corona-Boom nicht abwickeln konnten, dann waren da die explodierenden Energiepreise als Nachklang des russischen Angriffs auf die Ukraine. Energiepreise wurden nicht durch Preissignale, sondern durch Geopolitik gemacht. Das war die erste Phase.
Und dann kamen die Unternehmen hinzu. Man müsse sich ein Unternehmen als Regenten eines Territoriums vorstellen, sagt Weber. Wenn es in normalen Zeiten die Preise erhöht, öffnet es die Flanke für den Konkurrenten mit Billigangeboten. Die Lieferengpässe und Energiepreise wehrten diese Gefahr jetzt ab. In der gegenwärtigen Lage hätte auch die Konkurrenz nicht liefern können. Die Unternehmen hätten diese Ausnahmesituation genutzt und gemeinsam die Preise erhöht - über ihre zusätzlich entstandenen Kosten hinweg. Das Phänomen wird profitgetriebene Inflation oder polemisch "Gierflation" genannt. Haben die Unternehmen wirklich aus Gier heraus gehandelt oder aus Angst vor der unsicheren Zukunft, wie die amerikanische Notenbank herausgefunden haben will?"Ich benutzte den Begriff Gier nicht, da ich nicht glaube, dass es hier um ein emotionsgetriebenes Verhalten einzelner Unternehmensführer geht, sondern darum, dass diese Schocks die Dynamik des Wettbewerbs verändert haben", sagt Weber.
Die Unternehmen waren sowohl Getriebene als auch Profiteure in einer unvorhersehbaren Situation. Wobei: Die Gewinne amerikanischer Unternehmen sind 2022 auf das höchste Niveau seit dem Zweiten Weltkrieg gesprungen, schreibt die Financial Times. Auch die Unternehmen in der Eurozone haben in den vergangenen zwei Jahren besonders gut verdient. In Österreich stiegen die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer 2022 um 38 Prozent.
Hätten die Regierungen früher auf die Inflation reagiert und zumindest die Energiepreise gedrückt, dann hätte man die zweite Inflationsphase vielleicht abmildern und die Manövriermasse für die Privatwirtschaft verkleinern können, meint Weber.
Diese verpasste Chance leitet nun die dritte Inflationsphase ein. Für Österreich rechnen die Wirtschaftsforschungsinstitute Wifo und IHS 2023 mit einer Inflationsrate von über sieben Prozent. Die berüchtigte Lohn-Preis-Spirale, also das gegenseitige Hochschaukeln von Lohnsteigerungen und Preiserhöhungen, sieht Weber aber nicht heraufdräuen. Zumindest nicht, wenn man darin die schon wieder lauter werdende Forderung nach "Lohnzurückhaltung" der Arbeitnehmer erkennen mag. Weber will das Gegenteil: "Lohnerhöhungen und Profitzurückhaltung." Die Unternehmens-
gewinne seien dafür üppig genug, der Kaufkraftverlust der Arbeitnehmer ohnehin schon enorm.
Für die Regierung bleibt nun vor allem, die Folgen der Inflation abzufedern. Mehr als 1,3 Millionen Menschen in Österreich sind armutsgefährdet, was bedeutet, dass ein Ein-Personen-Haushalt weniger als 1392 Euro im Monat zur Verfügung hat. Auch wenn die Lebensmittelpreise in Österreich nicht zu den Haupttreibern der Inflation gehören, sind sie die Hauptemissäre derselben, weil die Menschen diesen "Grundbedürfnissen nicht ausweichen können", wie Weber sagt. Sie können nicht nicht einkaufen gehen. Webers Vorschlag: Supermarktketten könnten mit der Regierung übereinkommen, die Preise auf Eigenmarken in einem festgesetzten Warenkorb aus Brot, Milch, Butter, Eiern, Nudeln in den kommenden zwei Jahren um nicht mehr als zwei Prozent zu erhöhen. Über die Treffsicherheit macht sich Weber weniger Gedanken. "Ich bin jetzt nicht so furchtbar besorgt, dass Leute, die gut verdienen, auch mal ein Päckchen billige Nudeln abbekommen", sagt sie. Eine solche Übereinkunft zwischen Handel und Politik hat Türkis-Grün beim "Lebensmittelgipfel" Anfang Mai versucht. Die Lebe smittelhändler haben der Koalition die lange Nase gezeigt.
Mehr Durchsetzungsmacht hätte die Regierung bei den Richtwertmieten, also jenen mehr als 770.000 gesetzlich gedeckelten Zinsverträgen landesweit. Von einer "privilegierten" Position der Regierung spricht die Ökonomin, überhaupt noch Eingriff in so viel Wohnraum zu haben. Und von einer verpassten Chance, die Mietsteigerung nicht per Bremse eingeschränkt zu haben. Nachsatz Weber: "Wenn es in der Küche brennt, muss man versuchen, das Feuer zu löschen. Und wenn man keinen Feuerlöscher zur Hand hat, dann nimmt man eben einen Eimer Wasser oder den alten Teppich oder was auch immer gerade da ist."