

Über den Wipfeln mehr als ein Hauch
Björn Hayer in FALTER 42/2023 vom 20.10.2023 (S. 20)
Texte wie Gespenster. Sie gleiten durch die finsteren Flure, um hier und da für kurze Augenblicke aufzuschimmern und danach gleich wieder zu verschwinden. Sie begleiten uns bei jeder Lektüre eines Werkes von Marion Poschmann (Jg. 1969). Man kann sich ihre Bücher als alte, unbewohnte, aber stets mit einem merkwürdigen Zauber belegte Villen vorstellen. Wer sie betritt, taucht in Räume voller Echos und Spiegelungen ein.
In Poschmanns jüngstem Roman „Chor der Erinnyen“ hallt noch deren Vorgänger „Die Kieferninseln“ von 2016 nach. Es ging darin um einen Mann, der unversehens seine Gattin verlässt, sich auf eine Reise nach Japan begibt und dort den Spuren eines Haiku-Dichters des 17. Jahrhundert folgt – bis er sich gänzlich in den Weiten einer Landschaft verliert.
Die neue Geschichte nimmt gewissermaßen die andere Seite dieser Story in den Blick. Eine Frau kommt nachhause und muss feststellen, dass sie von ihrem Partner verlassen wurde. Dabei befindet sie sich ohnedies in einer veritablen Existenzkrise, scheint in Zweifeln gefangen.
Als dann noch unversehens ihre Jugendfreundin Birthe auftaucht und sie mit diversen Vorwürfen konfrontiert, gerät Mathilda in einen Strudel aus Erinnerungen und Sehnsüchten. Eine gemeinsame Wanderung erweist sich bald schon als komplexer Selbstfindungstrip, endend in „einer verwehenden Gegend“.
Was ist geschehen? Hat sich die Heldin von den Gespenstern der Vergangenheit befreien können? Von dem Schrecken einer dominanten Mutter und einer von Neid und Missgunst gekennzeichneten Freundschaft? Ihre Kladde, in der sie ihre Erlebnisse festhält, gewährt jedenfalls tiefe Einblicke in allerlei Verborgenes und Verdrängtes. „Sie fürchtete sich vor ihrer eigenen Handschrift“, heißt es. Und: „Das Papier war nicht mehr neutral. Es war vollkommen überzeichnet.“
So vieles hat sich über die Jahre in der Schrift geradezu abgelagert. Dabei verspräche eine weiße Seite einen Neuanfang. Wohl auch deswegen muss am Ende des Romans die sinnbildliche Auflösung der Hauptfigur im Raum erfolgen. Mathilda „selbst schien sich auszuweiten wie ein feiner Nebel“.
Wie schon in anderen Texten der in Essen geborenen Autorin verweist dieses Leerwerden auf die buddhistische Philosophie. Veranschaulicht hat die Schriftstellerin, die sich in ihrer so grazil ausformulierten Prosa ganz als Lyrikerin offenbart, dieses Potenzial in ihrem Gedicht „Gartenplan“ (aus dem Band „Geliehene Landschaften“ von 2016). „Aus einer geschützten Ecke heraus / läßt du den Raum entstehen“, liest man dort, bevor sich langsam eine Paradieskulisse aufbaut. In „Chor der Erinnyen“ scheint die Natur schlussendlich das innere Vakuum der Protagonistin zu füllen, die Flora avanciert zur Handlungsmacht.
Wir treffen auf Bäume mit „gebogenen Ästen, hintereinander, übereinander gestaffelt, ein Gewirr, immer weiter verzweigt, ein Gewölbe, das anwuchs und sich ausbreitete […], eine atmende Halle“; auf einen „wilde[n] Mond“, der „unruhige Schatten [warf]“ und auf „die Schönheit rasender dunkler Bewölkung“.
Es sind nicht zuletzt diese mal ins Mystische, mal ins Malerische ausgreifenden Landschaftsbeschreibungen, die das Faszinosum von Poschmanns schillerndem Stil ausmachen. Das Wetter, Steine und Pflanzen sind im Text mit utopischer Energie aufgeladen, während in der Realität gravierende Umweltzerstörungen und Extremwetter unseren Alltag kennzeichnen.
Bei Poschmann aber wohnt der Natur ein sakrales Momentum inne. Man könnte von einer literarischen Theologie sprechen, der es jedenfalls gelingt, das Metaphysische unserer Wälder einzufangen. Gebet und Sprachverführung liegen hier eng beieinander, zusammengehalten durch eine alle Sinne erfassende Fabulierkunst, die in der Gegenwartsliteratur einzigartig ist.