

Lasst tausend Nationen blühen!
Robert Misik in FALTER 49/2023 vom 08.12.2023 (S. 19)
Quinn Slobodian nimmt uns auf eine Entdeckungsreise in die Vorstellungswelt des radikalsten Flügels der "Neoliberalen", also den Gedankenkosmos staatsfeindlicher, autoritärer Libertärer. Und in Freihandelsräume, Vertragshäfen, Sonderwirtschaftszonen, Steueroasen, insgesamt über 5000 Pseudostaaten, in denen keine oder ganz andere Regeln gelten als in den sie umgebenden Nationen.
Das Buch beginnt mit Peter Thiel, dem Tech-Milliardär, bei dem Sebastian Kurz als "Global Strategist" angeheuert hat. Schon 2009 proklamierte Thiel: "Ich glaube nicht länger, dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar sind." In der Demokratie neigt die Politik zur "Einmischung in anderer Leute Leben ohne ihre Zustimmung". Letztlich vertritt Thiel eine elitäre, rassistische und antidemokratische Ideologie, von der sein Biograf einmal sagte, sie "grenze an Faschismus".
Radikale Libertäre und die faschistische Rechte sollten, möchte man meinen, eher Schwierigkeiten miteinander haben. Slobodian, der kanadische Historiker und Ideengeschichtler, zeigt, wie leicht diese Ideologien zusammenwachsen, wie etwa beim neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei.
Schon die moderateren Ausprägungen des Wirtschaftsliberalismus mündeten oft in die Demokratiefeindlichkeit. Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman war ein Bewunderer von Militärdiktatoren wie Augusto Pinochet.
Friedman formulierte, dass eine freie Wirtschaft eine notwendige Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft sei, dass aber "eine demokratische Gesellschaft, wenn sie einmal gefestigt ist, die freie Wirtschaft zerstört".
Auch Friedrich August Hayek, der Säulenheilige der Neoliberalen, wollte der Demokratie enge Fesseln anlegen, denn ohne diese würde die Versuchung bestehen, hohe Steuern einzukassieren und Sozialstaaten aufzubauen.
Wenn Staaten zerfallen, jubeln also die Libertären. Gibt es Chaos, feiern sie die schöpferische Zerstörungswirkung. Je mehr Staaten es gebe, umso besser. "Lasst tausend Nationen blühen", so die Maxime.
Gibt es eine Unzahl an "Staaten" - oder Territorien mit unterschiedlicher Gesetzgebung -, dann würde die Dezentralisierung erstens zu weniger Regulierungsmacht führen, zweitens würden die Staaten gegeneinander konkurrieren (wer am wenigsten reguliert, zieht die meisten Investoren an), außerdem könne man dann wie auf einer endlosen Speisekarte aussuchen, in welchem System man am liebsten leben wolle.
Die allermeisten Menschen würden wohl auch die Nationsbildung der Neuzeit als Fortschritt gegenüber dem Mittelalter mit seinen Stadtstaaten und kleinen Fürstentümern betrachten. Nicht so die Radikalliberalen. Sie betrachten diesen "Fortschritt" als historische Fehlentwicklung und wollen die Zeit zurückdrehen, quasi: "Mehr Mittelalter wagen!"
Das Freiheitspathos geht mit einem Hang zum Autoritären einher, denn die dezentralen Minigemeinwesen sollen geführt werden wie Unternehmen - mit einem Chef, der sagt, wo es langgeht. "Demokratie verursacht Durcheinander"(Slobodian), da ist Autokratie viel effizienter.
Früh begeisterten sie sich für Hongkong, Singapur, Dubai, Sonderwirtschaftszonen in China, Steueroasen, Exportzonen.
Als in den 1990er-Jahren der "Failed State" Somalia kollabierte, betrachteten das die meisten Kommentatoren als Katastrophe für die Menschenrechte, doch die Radikallibertären sahen das Land am Horn von Afrika als Utopie-Nation, in der man die Idee einer Wirtschaftszone ohne Staat verwirklichen konnte. Zuvor schon waren einzelne Bantustans im Apartheid-Südafrika solche Sehnsuchtsorte.