

Die Debütantin: politisch, poetisch, packend
Sebastian Fasthuber in FALTER 46/2024 vom 13.11.2024 (S. 4)
Es ist das Debüt des Jahres und einer der stärksten Romane heuer: Was die Kärntnerin Julia Jost in "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" betreibt, ist Heimatexorzismus erster Güte. Sie hat einen Dreh gefunden, auf fast schon heitere Art mit ihrem Herkunftslandstrich abzurechnen.
Jost schildert alles aus der Perspektive des Kindes. Gleichzeitig erzählt ihr Roman sehr anschaulich von gesellschaftlichen Umwälzungen auf dem Land. Die Großeltern waren noch Bauern, arbeiteten hart und gönnten sich nichts. Die Eltern leben schon ganz anders: schnell und konsumorientiert. Der Vater ist Teil eines Netzwerks um rechte Politiker und Geschäftsleute, die Mutter unternimmt rauschhafte Einkaufstouren. Das liest sich so poetisch wie politisch und ist obendrein noch witzig.
Die Stunde der Debütantin
Sebastian Fasthuber in FALTER 6/2024 vom 07.02.2024 (S. 28)
Julia Jost wartet vor dem Haus des Meeres. Sie würde das Gespräch am liebsten draußen führen, sagt sie. Das ist aber dann schon der Gipfel der Exzentrizität, den sich die Autorin mit der sympathischen Totalnormal-Ausstrahlung an diesem Nachmittag erlauben wird.
Auf das Gehen als Mittel zum Denken schwor schon Thomas Bernhard. Wir bewegen uns durch den 6., 1. und 4. Bezirk, immer auf der Suche nach kleinen Gassen, wo der Wind weniger reinpfeift. Bald befinden wir uns tief im Kärnten der späten 1980er-und frühen 90er-Jahre. Dort ist Jost zwischen Stammtisch und Tennisplatz, NS-Devotionalien und aufkommender Haiderei groß geworden. Von klein auf hatte sie das Gefühl, irgendwie falsch zu sein.
Aus der Erinnerung an die Jugend im Abseits hat Jost den Stoff für ihren ersten Roman geschöpft.
Anfang Februar 2024 sei die Prognose gewagt: "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" ist das Debüt des Jahres und der nächsten paar Jahre vielleicht noch dazu.
Die in Wien lebende Autorin hat ein fantastisches Buch zum Mitleiden und Lachen geschrieben, das gleichzeitig ein Fest der Sprache ist. Sie steigt auf ganz hohem Niveau in den Literaturbetrieb ein. Ihr Erstling erscheint als Spitzentitel im Suhrkamp Verlag, wo er gut hinpasst.
Wie einst Suhrkamp-Autor Thomas Bernhard hat Jost einen Hang zur Übertreibung und zur rhythmisierten Sprache, nur wiederholt sie sich nicht so oft. In der Tradition von Josef Winkler, ein weiterer Verlagskollege, arbeitet sie sich durchaus obsessiv an ihrer Kärntner Heimat ab.
Suhrkamp-Lektorin Martina Wunderer arbeitet schon seit Jahren mit ihr an dem Text. "Vom ersten Moment an war ich begeistert von Julias Ton, dem Witz, der Anarchie, der Zärtlichkeit", sagt sie.
Mehrere tausend Gratis-Leseexemplare wurden zuletzt an Redaktionen, Literatur-Influencer und Buchhandlungen verschickt. "Mal schauen, ob ich es überhaupt schaffe, so viel zu verkaufen", wundert sich Jost selbst ein wenig über die Bemühungen des Verlags. Dahinter stehen entsprechend hohe Erwartungen.
Werden sie erfüllt? Der Roman wäre der etwas andere Bestseller. Die Autorin schreibt keine Hype-Literatur und keinen neuen "Blasmusikpop". Was Jost betreibt, ist Heimatexorzismus erster Güte und doch weit weg von Anti-Heimatliteratur. Sie hat einen Dreh gefunden, auf beinahe heitere Art mit ihrem Herkunftslandstrich abzurechnen.
Entscheidend war die Perspektive: "Ich wusste am Anfang nur, dass meine Erzählerin die Möglichkeit haben muss, naiv zu beschreiben. Eigentlich sind mir nur der Clown und das Kind eingefallen. Ich habe mich für das Kind entschieden."
Das Mädchen schildert unbefangen, was es sieht und was die Erwachsenen so treiben. In einem Messer mit der Gravur "Meine Ehre heißt Treue", dem Wahlspruch der Waffen-SS, erkennt es einfach ein Gerät zum Schneiden, nicht mehr. Vieles, was in der Geschichte zum Gruseln oder brutal ist, nimmt solcherart groteske Züge an und wird lustig. Aber niemals niedlich, das nicht.
Getarnt als Coming-of-Age-Geschichte, erzählt der Roman sehr anschaulich von gesellschaftlichen Umwälzungen auf dem Land. Die Großeltern des Kindes waren noch Bauern, sie arbeiteten hart und gönnten sich nichts. Die Eltern leben schon ganz anders: schnell und konsumorientiert.
Der Vater expandiert als Autohändler, macht vor allem nach dem Fall des Eisernen Vorhangs glänzende Geschäfte. Die Mutter ist Lehrerin und steht am Nachmittag und Abend noch in der Küche des von der Familie geführten Hotels samt Wirtshaus.
Auch durch die kindliche Brille betrachtet tun sich hinter der Fassade Abgründe auf. Papa ist Teil eines Netzwerks um rechte Politiker und Geschäftsleute, geht regelmäßig mit Leuten saufen, die an Haiders Buberlpartie gemahnen. Die Mutter füllt die Leere, die sie verspürt, durch das exzessive Anhäufen von Dingen und unternimmt rauschhafte Einkaufstouren.
Die namenlose Ich-Erzählerin, die nur manchmal das Kürzel J. trägt, wächst um 1990 bei allem Fortschritt in einer streng patriarchal geprägten Welt auf. Hier ist manchen Frauen sogar das Betreten der Garage verboten, die vom Mann als Hobbyraum genützt wird.
"Damals wurde noch sehr viel mehr Druck ausgeübt, was ein Mann zu leisten hat und was eine Frau", erinnert sich Jost. "Wer nicht hineingepasst hat, musste sich sehr mühsam den Weg durch die Gesellschaft freischaufeln. Heute ist es am Land mit Stigmatisierungen nicht mehr so grausig." Mit dem Unfalltod eines Mitschülers endet für J. der unschuldige Teil der Kindheit. Gleichzeitig geht ihr auf, dass sie an Dingen, die als mädchenhaft gelten, so gar keinen Gefallen findet. Umso mehr gefällt ihr das ungefähr gleichaltrige Mädchen, dessen Familie nach dem Jugoslawienkrieg mit am Hof lebt.
Josts Roman ist ein Kunstwerk der Gewichtung. Es wäre naheliegend zeitgeistig gewesen, die Geschichte als die eines queeren Erwachens auf dem Land vor Neonazi-Kulisse zu erzählen. Das tut die Autorin aber eben nicht. Sie hat das Thema sexuelle Identität bewusst sparsam dosiert: "Es wäre mir zu dünn gewesen, mich nur darauf zu konzentrieren."
Andere Geschichten sind mindestens genauso bedeutsam. Etwa die des schrägen Alten vom Nachbarhof, der politisch im Dorf aus der Reihe tanzt. Als Bub von seinem Vater wie ein Sklave gehalten, schloss er sich im Zweiten Weltkrieg slowenischen Partisanen an. len dampft sie auf kompakte 230 Seiten ein. Famos ist auch die musikalische Sprache, ein Verknüpfen aus mündlichem Erzählen, etwas höherem Ton und Kärntner Dialekt-Einsprengseln.
Eingangs durchmisst der Text auf zwei Seiten halb Kärnten: "Es folgt der Wörthersee, meeresgroß zu deiner Rechten, mit der verwitterten und morschen Seebühne aus Dunst, die im barschen Wind bis in alle Ewigkeit knattert und Stück für Stück bricht. Hör genau hin, und dir entgeht nicht der Kontrapunkt des klunzenden Klagens von Alpen und Adria, und wenn dein Gehör besonders gut ist, entdeckst du sogar noch ein paar nachhallende Textfetzen unvergesslicher Konzerte. >Mäh Mäh Mäh Märchenprinz