

Die Geburt Perus aus dem Geiste der Volksmusik
Thomas Leitner in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 12)
Der Forschungs- und Lebensbericht eines die längste Zeit nur mäßig erfolgreichen Musikwissenschaftlers ist Gegenstand des neuen Buches von Mario Vargas Llosa. Das Interesse des Protagonisten gilt volkstümlichem Gesang und Tanz, er gilt als Kapazität für den Vals peruano, der im 19. Jahrhundert aus Europa übernommen und von Indigenen, städtischem Proletariat und später auch der weißen Mittelklasse gepflegt wurde.
Die klassenüberschreitende Leidenschaft für dieses Genre verbindet sich für Tono Azpilcueta mit der Hoffnung auf nationale Einheit. Trotz vielversprechendem Studienabschluss hält er sich mit prekären Jobs über Wasser, gibt Musikstunden, schreibt knappe Konzertkritiken in marginalen Magazinen. Die Begeisterung, die er seinen Lesern vermitteln möchte, steigert sich zur Leidenschaft, als er einen völlig unbekannten Sänger hört. Allerdings nur ein einziges Mal, denn das junge Genie verschwindet.
Als er von dessen frühem Tod erfährt, beschließt Tono, eine Biografie dieses Lalo Molfino zu verfassen. Er bereist den Norden Perus und besucht das Kaff, in dem Molfino als Findelkind unter Patronage eines Priesters aufgewachsen ist. Das Manuskript über das kurze Leben eines so genialen wie unleidlichen Einzelgängers wird nach vielen Ablehnungen von einem ambitionierten, unerfahrenen Verleger angenommen und zu einem überraschenden Erfolg: Es befriedigt das Harmonieverlangen der zerrissenen, vom Terror der Guerillaorganisation Sendero luminoso überschatteten Gesellschaft der 1980er-Jahre.
Tonos Selbstbewusstsein blüht auf, endlich eröffnet sich ihm eine akademische Laufbahn. Doch statt sich mit Neuauflagen des nachgefragten Buches zufrieden zu geben, überspannt er den Bogen und fügt Exkurse über peruanisches Kulturerbe wie den Stierkampf oder das kaum übersetzbare Lebensgefühl huachafería ein. Sie sollen nicht nur eine neue nationale Identität begründen, sondern den ganzen Kontinent, ja letztendlich die Welt vereinen. Das aber ist endgültig zu viel des Guten. Die Buchhändler verlieren die Geduld mit dem angeschwollenen Kompendium, der Verleger verliert sein Vermögen, Tono den Verstand.
Und auch der Leser ist verwirrt. Denn nun meldet sich die Stimme des Autors, der versichert, die Reise in den Norden Perus gerne unternommen zu haben. Ist man bei den seltsamen Heilsversprechungen aus Kitsch und Kommerz mit den Visionen eines vom Irrsinn Bedrohten konfrontiert, oder meint Vargas Llosa die Lobpreisungen der Populärkultur ernst? Die Akteure der geschilderten Musikszene sind jedenfalls real (wie sich auf Youtube überprüfen lässt).
Vargas Llosa liebt es zu verwirren, und das gelingt ihm seit den genialen Frühwerken wie „Das grüne Zimmer“ (1965) immer wieder. Auch in der „Großen Versuchung“, von dem der 88-Jährige behauptet, es wäre sein letztes literarisches Werk, frönt er wohl diesem Vergnügen. Andererseits sind seine politischen Äußerungen oft nichts weniger als das Versprechen der Geburt Perus aus dem Geiste der Volksmusik. In den letzten Jahren unterstützte er gar Brasiliens rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro.
Um die Verdienste eines virtuosen Autors nicht zu schmälern, dessen Meisterschaft in der Personenzeichnung und dem Gefühl für Natur und Lokalkolorit in der Übersetzung von Thomas Brovot spürbar wird, sei der Vergleich mit einem der ganz Großen gewagt; schließlich kommt der Literaturnobelpreisträger von 2010 ja „von Cervantes her“. Das betont er zwar nicht explizit, aber unverkennbar sind seine Desorientierungstechniken, die er früh entwickelt und selbst so genannt hat, mit dem desengagno des spanischen Renaissancedichters verwandt. Auch manche Einzelmotive scheinen dessen Opus magnum entnommen: Die Ratten, die Tono bei Rückschlägen quälen, kann man durchaus als Analogie zu Don Quixotes vergeblichem Kampf gegen Windmühlenflügel sehen.