

Im Bett mit Magda G.
Klaus Nüchtern in FALTER 33/2024 vom 16.08.2024 (S. 29)
Der Nazi hat immer Saison, der deutsche Bücherherbst 2024 macht da keine Ausnahme und versetzt Fernsehen, Funk und Feuilleton bereits im August in Aufregung. Denn die aus Bremen gebürtige Nora Bossong macht sich mit dem Roman "Reichskanzlerplatz" an keine Geringere heran als an Magda Goebbels.
Die 42-Jährige tut das allerdings über die Bande, indem sie nicht die Gattin des Reichspropagandaleiters selbst zur Hauptfigur macht, sondern deren Teilzeitlover Hans Kesselbach; die Frage, ob sich hinter dem fiktiven Namen eine historisch verbürgte Person verbirgt, ist Teil eines koketten Spiels, die durch die literarische Freiheit allemal legitimiert ist.
Die Pointe besteht jedenfalls darin, dass dieser Hans a) schwul ist, b) eigentlich auf Magdas Stiefsohn aus erster Ehe steht, der aber c) das unbotmäßige Begehren zurückweist und d) seinerseits ein Gspusi mit der Stiefmutti hat.
So weit, so juicy, so teilverbürgt. Tatsächlich hatte die 19-jährige Magda 1921 den um 20 Jahre älteren Industriellen Günther Quandt geheiratet, dessen Sohn Hellmut 1927 verstarb -was er denn auch in "Reichskanzlerplatz" tut. Der Herr Papa profitierte prächtig von Terrorregime und Weltkrieg, weil die von seinen AFA-Werken produzierten Batterien in Torpedos und der "Wunderwaffe" V2 Verwendung fanden und deren Herstellung durch den Einsatz von Zwangsarbeitern garantiert wurde. Literarisch handhabbar gemacht wird dergleichen Wikipedia-Wissen, indem es die Autorin ihrem Ich-Erzähler in die Feder diktiert oder in ungelenke Dialoge packt.
Die Handlung des Romans erstreckt sich von 1919 bis 1944, der Protagonist ist zu Beginn zwölf, am Ende 37 Jahre alt. Historische Ereignisse wie die Ermordung Walter Rathenaus, Lindberghs Atlantikflug, das Bombardement der baskischen Stadt Guernica oder die Annexion Österreichs werden mehr oder weniger lustund kunstlos beigepackt, wobei sich der Protagonist als Paradebeispiel eines unzuverlässigen Erzählers keine allzu große Mühe gibt, sein Desinteresse an Politik retrospektiv zu verbergen.
Behüteter Sohn aus gutem Hause, redet sich Kesselbach, den seine Diplomatenkarriere bis ins Generalkonsulat in Mailand führt, gegenüber einem längst emigrierten Schulfreund, der ihn zur Flucht in die Schweiz drängt, auf seine Unparteilichkeit heraus: "Ich bin Beamter, ich arbeite für unser Land, und es wird auch wieder ein anderes Deutschland geben."
Der NS-Chefideologe und Holocaust-Technokrat Alfred Rosenberg ist für ihn bloß ein "Faschist ohne Grandezza", der "nicht zu den ernst zu nehmenden Leuten" gehört. In Joseph Goebbels wiederum erblickt Kesselbach einen "mittelmäßig promovierten Rüpel", dessen größte Charakterdefizite darin zu bestehen scheinen, dass er zu viel Rasierwasser auflegt und seine Gattin mit einer tschechischen Schauspielerin betrügt -was die deutsche Muttermaschine, die von Schwangerschaften, Alkohol-und Tablettenkonsum eh schon genug geschlaucht ist, noch zusätzlich auszehrt. Der Versuch, die dämonische Strahlkraft zu erfassen, die ihrem Gatten - sie nennt ihn übrigens "Jupp" - zugeschrieben wird, muss als halbherzig gelten: "Goebbels' Stimme, duckend, tänzelnd, aufschäumend". Ah, ja.
Ähnliches gilt für Magda selbst. Gewiss, "ihre Augenfarbe, changierend zwischen Grau und Eisblau" und "ihr dickes blondes Haar" mögen aparte Assets sein, können die hartnäckige Obsession des homosexuellen Kesselbach aber kaum hinreichend erklären. Die beiden kommen einander übrigens beim vierhändigen Klavierspiel näher, und Schubert muss dann auch noch für die abgeschmackteste Pointe des Romans herhalten.
Unter den Gästen eines Empfangs bei den Quandts befindet sich auch "der Österreicher":"Seine Miene ist nicht so düster wie auf den Plakaten, er lauscht aufmerksam der Musik, tritt einen Schritt näher und blickt mir über die Schulter auf die Finger. Schubert, sage ich. Es geht zu Herzen, antwortet Hitler."
Seinen absoluten Tiefpunkt erreicht der sprachlich zwischen Rollenprosainferno und larmoyantem Pathos angesiedelte und nach Belieben zwischen Präteritum und historischem Präsens wechselnde Roman in dem Moment, in dem Magda und Hans in die Kiste hüpfen. Redlich bemüht, auch ja kein "Babylon Berlin"-Klischee auszulassen, jagt Bossong ihren Protagonisten durch die Cruising-Zonen im Tiergarten, durch verrauchte Arbeiterkneipen, in denen viel politisiert und Bier getrunken wird, sowie verruchte Bars voll Schampus und Sex.
In ihnen hat Hans sich schlau gemacht, was ihm nun, allein im Bett mit Magda, zugute kommt: "Die starre Frau aus dem Stundenhotel war zersprungen, sie sog sich an mir voll [ ] und ich gab ihr, wonach sie verlangte und was ich [ ] an den Tresen der Etablissements von den jungen Strichern und Huren gelernt hatte, ihre Fertigkeiten, durch die sie den Himmel zwischen sich und ihre Kunden einzogen, um unter dem Stöhnen selbst möglichst wenig berührt zu werden."
Unter Stöhnen möglichst wenig berührt wird auch der Leser, der sich der Lektüre von "Reichskanzlerplatz" bis zum bitteren Ende unterwindet - und dann annähernd so klug ist wie davor. Die Nazis? Politisch und menschlich nicht wirklich okay. Magda Goebbels? Eher auch nicht, darüber hinaus auf langweilige Art mysteriös. Der Protagonist? Ebenso unverlässlich wie unglaubwürdig, zumal bis zuletzt offenbleibt, aus welcher Distanz er hier überhaupt zurückblickt. Sind es Wochen, Monate oder Jahre?
Für die unvermeidliche Leinwandadaption hätten wir übrigens einen Besetzungsvorschlag. Lars Eidinger, Philipp Hochmaier und Robert Stadlober waren schon dran, jetzt sollten endlich auch Verena Altenberger und Manuel Rubey als Magda und Joseph Goebbels zum Zug kommen. Lasst auch sie die Nazis spielen!