

Fremde im Zug und im Zirkus
Erich Klein in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 12)
Eigentlich sollte es für die russische, in B. lebende Schriftstellerin M. eine normale Fahrt zu einer Lesung in F. werden. Als der Anschlusszug beim Umsteigen gecancelt wird und sich das Taxi, das die Autorin zum vereinbarten Leseort bringen sollte, als das falsche erweist, beginnt die eigentliche Reise.
Maria Stepanova, 1972 in Moskau geboren und heute in Berlin lebend, avancierte mit dem Roman „Nach dem Gedächtnis“ (2018) und bislang drei ebenfalls bei Suhrkamp erschienenen Gedichtbänden zur bekanntesten russischen Autorin der mittleren Generation. In ihrem aktuellen Kurzroman „Der Absprung“ inszeniert die Lyrikerin ein Spiegelspiel der besonderen Art. Statt modischer Autofiktion stellt sie über die handelsübliche Nabelschau hinausgehende große Fragen und vergisst dabei weder ihr Interesse an der Umgebung noch schwungvolles Erzählen. Im Original heißt das soeben auch in Moskau erschienene Buch „Fokus“.
Am Anfang steht der Überfall Russlands auf die Ukraine: „Im Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen: es wuchs, als ginge es gar nicht anders, wie um ein weiteres Mal zu zeigen, dass es an seiner Absicht festhielt, aus der Erde zu sprießen, ganz egal, wie viel auf deren Oberfläche gemordet wurde.“
In dergleichen lakonisch-apokalyptischer Gestimmtheit bricht M. frühmorgens zum Bahnhof auf, wo sie von einem Obdachlosen angeherrscht wird: „Kauf mir etwas zum Essen!“ Schuldbewusst tut sie das, beim zweiten Schnorrer verfliegt alle Empathie, ihr Kaffee bleibt stehen. Ein Schauer an Gedankensplittern zu Wokeness, Klimakatastrophe und zum Literaturbetrieb (Buchpräsentationen als „Brautschau“) treibt durch die Erzählung.
Selten wurde das Verhalten von Zugreisenden mit sämtlichen Spielarten des Einander-Ignorierens besser beschrieben. Ohnedies ist M. mit ihren Gedanken beschäftigt. Über den Krieg, wie es dazu kam, wie das Klima in Russland peu à peu verpestet wurde, bis der Leviathan seine Fratze zeigte. Über ihre Landsleute und deren Hilflosigkeit angesichts des Kriegsputinismus heißt es harsch: „Sie sind vertiert.“ Und da ist M.s Unbehagen, noch immer in der Sprache der Mörder zu denken. Sollte sie überhaupt aufhören zu schreiben?
Die Selbstbefragung in quasi essayistischer Form führt nahtlos in die Erzählung zurück: M. verlässt genervt den Zug, das Avocadosandwich reist allein im Gepäcknetz weiter. Bei einem Türken kommt sie endlich zu ihrem Kaffee, vergisst aber das Ladekabel ihres Handys. Die Verbindung zur Welt reißt ab: „Sie gehörte nicht mehr dazu, existierte nicht mehr – niemand wusste, wo sie steckte und was mit ihr los war, niemand konnte sie herbeizitieren und zur Ordnung rufen.“
Bei der Weiterfahrt im Regionalzug fällt ihr, nicht zum ersten Mal, ein Mann mit Zopf auf, von dem sie sich nach einigen slapstickartigen Wendungen zum gemeinsamen Besuch eines Escape Room einladen lässt. Selten wurde bei Betonung der Abwesenheit aller Erotik derart prickelnd über die Begegnung zweier Fremder geschrieben!
Der Höhepunkt der Erzählung ereignet sich im Zirkus, dem sich die auf Abwegen befindliche M. für eine Abend lang anschließt – Partizipation an einer Zauberschau inklusive. Stepanova meistert das literarische eher abgedroschene Terrain Zirkus auf souveräne Weise. Der Blick hinter die Manege ist auch einer hinter die Fassade der Erzählung, deren Ende offen bleibt wie in Michelangelo Antonionis „Blow Up“.
Über weite Strecken liest sich „Der Absprung“ wie die Beschreibung einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, am Ende erweist sich die Verfasserin als Enkelin von Kafka. Und: Die Lyrikerin Maria Stepanova schafft, wenn schon nicht den Absprung, so doch den Genrewechsel zur Prosa. Was bekanntlich nicht jedem Dichter gelungen ist.