

„Bin schon beim Buchstaben D“
Erich Klein in FALTER 12/2025 vom 21.03.2025 (S. 11)
Als der ukrainische Autor Serhij Zhadan im Winter 2022 an einem Gedichtzyklus über seine damals schon von den Russen besetzte Heimat arbeitete, begann der große Krieg. Der Star des postsowjetischen Undergrounds brauchte einige Zeit, bis er seine Sprache wiederfand. In den zehn Geschichten von „Keiner wird um etwas bitten“ erreicht er eine bislang unerreichte erzählerische Perfektion.
Seine meist durchgeknallten Protagonisten sind dieselben wie eh und je. „Am zweiten März, dem siebten Kriegstag, rief Kolja an und bat, eine Leiche wegzubringen. Artem war nicht überrascht, fragte aber nach – wessen Leiche genau?“ Die anarchistischen Rabauken sind durch den Krieg nicht auf einmal zu guten Menschen geworden, aber sie tun einfach, was jetzt zu tun ist, holen Kinder aus der Gefahrenzone, versorgen Alte mit Medikamenten oder Lebensmitteln. Die meisten Jungen sind ohnedies weg – entweder ins Ausland geflohen oder tot.
Zhadan beschreibt nicht den Krieg an der Front, sondern die Stadt in ihrer scheinbaren Normalität. Passanten zwischen Trümmerhaufen, leere Straßen, forgotten places: „Wir stehen unter dem weiten Himmel der Vorstadt, schweigen, lauschen der Stille. Es ist still wie in einem Haus, aus dem eine große, ewig streitende Familie ausgezogen ist.“
Der Erzähler unterbricht das unwirsche Einstellungsgespräch in einem Büroturm und lässt den Firmenchef aus dem Fenster schauen. Am Ende eines lyrischen Intermezzos stellt sich heraus, dass der neue Mitarbeiter ein Problem hat: „,Was ist ihm denn passiert?‘ ,Landmine. […] Bei Charkiw. Auf dem Rückweg vom Einsatz, sind falsch abgebogen. Alle zerfetzt, die ganze Gruppe. Nur unser Serhij Stanislawowytsch überlebte. Bloß, dass er jetzt nichts mehr sieht.‘“
Da sind zwei, die sich zufällig an einer Tankstelle kennenlernen und für eine Nacht im Hotel verabreden. Er bekommt unter Mühen Urlaub von der Front; sie, früher Anwältin, ist gerade auf dem Weg dorthin. Außer linkischer Nervosität passiert nicht viel: „Lass uns schlafen, da wir schon ein Bett haben.“ Auch der Liebesversuch zweier ehemaliger Schulfreunde – er kommt ebenfalls gerade von der Front, sie hat Blumen mitgebracht – endet ergebnislos.
Von geradezu biblischer Wucht hingegen ist die Erzählung vom Begräbnis eines Kommandeurs: Der Pfarrer weiß nicht, was er über den Gefallenen sagen soll, die noch immer untergebenen Soldaten wissen nicht, wie man sich in der Kirche verhält; Frauen weinen, und am Sarg stehen Ehefrau Dina sowie Anna, die Geliebte des Toten. Dina trägt jetzt zwei Eheringe: „Der Tod verbindet, der Tod ist wie eine Straßenbahn – es ist nicht wichtig, wie du hierher geraten bist, wichtig ist, wo du aussteigen musst.“
Zhadans Protagonisten tun so, als hätten sie keine Angst, als wären sie nicht einsam, während alle Welt längst verschwunden ist. Zurück bleiben nur Charkiw, die zweite, östliche Hauptstadt der Ukraine, und ihr Chronist. In aller Verlassenheit und trotz jahrelanger Belagerung wirkt die Millionenstadt merkwürdig aufgeräumt. Sie ist die eigentliche Heldin des Buches. Gelegentlich taucht eine Rauchschwade in der Ferne auf, sonst ist es die Sonne, der sich die Gesichter der Überlebenden sehnsüchtig entgegenrecken. Und schließlich ist da der wortkarge Pensionist, der auf ein zerbombtes Schulgebäude aufpasst: „,Ich hasse sie‘, sagte Pal Iwanytsch. ,Wen?‘, fragte der Dicke. ,Die, die das alles angefangen haben.‘“ Seine Zeit verbringt Pal damit, aus seinem alten Nokia-Handy Namen zu löschen. „,Wen denn?‘ ,Die, die inzwischen gestorben sind. Bin schon beim Buchstaben D.‘“
Serhij Zhadans Erzählungen erreichen in ihrer Einfachheit geradezu shakespearesche Monumentalität, ersetzen einen Großteil dessen, was über den Krieg in der Ukraine geschrieben wurde. Und sie sind der Beweis, dass Kunst auch in Zeiten des Krieges möglich, ja nötig ist.