Aufrecht

Überleben im Zeitalter der Extreme | Das lang erwartete Prequel zum international gefeierten Bestseller »Frei«
von Lea Ypi
389 Seiten, Hardcover
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ISBN 9783518432624
Erscheinungsdatum 15.09.2025
Genre Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Verlag Suhrkamp
Übersetzung Eva Bonné
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Suhrkamp Verlag GmbH
Torstr. 44 | DE-10119 Berlin
info@suhrkamp.de
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Kurzbeschreibung des Verlags



Was wissen wir wirklich über die Menschen, die uns am nächsten stehen?


Als Lea Ypi im Internet ein ihr unbekanntes Foto entdeckt, das ihre Großeltern 1941 beim Après-Ski in den italienischen Alpen zeigt, fragt sie sich, was sie wirklich über ihre Familie weiß. Warum hat ihre geliebte Großmutter Leman, genannt Nini, Französisch gesprochen, wenn sie doch in Saloniki aufgewachsen war, als Enkelin eines Würdenträgers? Was hatte sie bewogen, als junge Frau Griechenland zu verlassen und auf eigene Faust nach Tirana zu gehen? Wie war sie mit Asllan zusammengekommen, ihrem Mann, der bald für viele Jahre in einer »Universität« verschwand? Und warum lächelte sie im Schnee von Cortina und zu einer Zeit, in der es nichts zu lachen gab, weil in Europa ein grausamer Krieg tobte?


Lea reist an die Orte von Lemans Leben, um es Stück für Stück anhand von Archivalien, Akten und Anekdoten zu rekonstruieren. Gebannt folgt man ihr in die untergegangene Welt der osmanischen Aristokratie, an die Wiege der neuen Nationalstaaten auf dem Balkan und natürlich nach Albanien, erst unter faschistischer Besatzung, dann unter kommunistischer Herrschaft.



Fesselnd, empathisch und in ihrem unnachahmlichen Ton erzählt Lea Ypi in Aufrecht von den Wendepunkten eines Lebens in extremen Zeiten – von schicksalhaften Begegnungen, von Liebe und Verrat sowie von Entscheidungen gegen den Strom der Geschichte. Ihr neues Buch – der lang erwartete Prequel zum international gefeierten Bestseller Frei – ist atemberaubende Familiensaga und tiefgründige Reflexion über die Zerbrechlichkeit der Wahrheit. Mit der Kraft der Imagination setzt es Menschen ein Denkmal, die ihre Würde zu bewahren vermochten, als sie mit Stiefeln getreten wurde. Episch.


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ISBN 9783518432624
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FALTER-Rezension

"Nicht die Migration, der Kapitalismus ist schuld"

Lina Paulitsch in FALTER 20/2025 vom 14.05.2025 (S. 24)

Seit vier Jahren ist die sogenannte Rede an Europa am Judenplatz nicht nur ein Auftakt zu den Wiener Festwochen. Sie ist ein intellektueller Aufschlag, sie lädt ein zum Denkspiel. "Meine Aufgabe ist es, zu provozieren und Ideen zu geben, die kurzfristig vielleicht nicht unbedingt umsetzbar sind", sagt Lea Ypi in ihrem Büro an der London School of Economics.
Am 15. Mai kommt die in Tirana geborene Professorin und Bestsellerautorin nach Wien, um diesem Anspruch nach dem amerikanischen Historiker Timothy Snyder (Festredner 2022), der ukrainischen Menschenrechtsaktivistin Oleksandra Matwijtschuk (2023) und dem israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm (2024) gerecht zu werden.

Lea Ypi ist spätestens seit "Frei"(2021) in ganz Europa bekannt. In der Autobiografie erzählt sie von ihrem Aufwachsen im kommunistischen Albanien. Während die Eltern eigentlich Oppositionelle waren, ließen sie die Tochter im Glauben, die albanische Diktatur sei ein Ort der Geborgenheit. Als die Mauer fiel, war Ypi zehn Jahre alt -und der politische Systemwechsel riss all ihre Gewissheiten mit.

Auf charmante Weise verknüpft die Autorin ihre Protagonisten mit verschiedenen philosophischen Ideen von Freiheit. Im Gespräch mit dem Falter erklärt sie, warum wir das Erbe der Aufklärung verteidigen und mehr über ökonomische Ungleichheit sprechen sollten.

Falter: Lea Ypi, Sie sind in Albanien aufgewachsen und jetzt Professorin an einer der renommiertesten Universitäten der Welt, der London School of Economics. Sie sind eine Vorzeige-Migrantin. Wie fühlt es sich an, eine Erfolgsgeschichte zu sein?

Ypi: Ich bin Albanerin, ich bin eine Frau, ich komme aus einer muslimischen Familie. Wer nur das über mich weiß, würde mich nicht unbedingt als vorbildliche Migrantin betrachten. Eher als stereotype Einwanderin. Ich versuche, mich genau gegen diese Unterscheidung zu wehren, weil wir den Erfolgsstorys eine Freiwilligkeit zuschreiben, die es nicht unbedingt gibt.

Gibt es gute und schlechte Migranten?

Ypi: Die Leute unterscheiden in der Regel zwischen regulären und irregulären Migranten. Letztere haben die Grenzvorschriften verletzt und sind ohne Erlaubnis eingereist, die anderen haben ein Visum erhalten. Dann kommt die Frage: Nehmen sie Sozialhilfe in Anspruch, die anderen Menschen zur Verfügung stehen sollte? Sind sie eine finanzielle Belastung für die Gesellschaft? Diese Unterscheidungen sind völlig leer und bedeutungslos. Wir sollten sie von Grund auf infrage stellen. Das versuche ich in meiner Rede an Europa. Niemand macht sich Sorgen, dass Menschen von Kanada nach Australien oder von den Vereinigten Staaten nach Großbritannien gehen. Was uns Sorgen bereitet, ist die asymmetrische Migration: Wenn Migration nur in eine Richtung geht.

In Europa werden Wahlen mit dem Thema Einwanderung gewonnen. Sollten sich Parteien der Mitte, angesichts der breiten Kritik, auch für einen Einwanderungsstopp einsetzen?

Ypi: Das politische System muss reagieren, aber die Art und Weise, wie es reagiert, finde ich grundlegend falsch. Die Linken oder die Liberalen werden nie so gut sein wie die Rechten, wenn es darum geht, einen Feind zu finden, um dann die Debatte zu polarisieren und sie so zu vergiften, dass alle anderen folgen müssen. Die Rechten werden immer besser darin sein, für Abschiebungen einzutreten. Man sieht das an US-Präsident Donald Trump.

Es gibt aber auch unmittelbare Probleme. Die Zuwanderung wirkt sich in Wien etwa auf das Gesundheits-und Sozialwesen aus. Die Stadt wächst in kürzester Zeit, die Bevölkerung wird größer, das Sozialsystem gerät unter Druck.

Ypi: Die Migrationsforschung zeigt, dass Migration keine Nettobelastung für Gesellschaften darstellt. Oft gleicht sie den demografischen Rückgang und die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt aus. Es gibt keinen Grund, sich nur auf das Negative statt auf das Positive zu konzentrieren. Und ja, es gibt Probleme bei der Integration. Je verletzlicher die Gruppe ist, aus der eine Person stammt, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Person zum Beispiel gegen das Gesetz verstößt oder sich nicht integriert. Wenn man aus einer Gemeinschaft kommt, die in der Vergangenheit verfolgt wurde, ist es schwieriger, sich zu integrieren, als wenn man aus einer Gruppe kommt, die alle Vorteile genießt.

Und die Aufnahmegesellschaft? Ein Lehrer, der eine Klasse mit 30 Schülern unterrichten muss, hat es schwer, wenn ein Großteil kein Deutsch spricht.

Ypi: Kinder lernen Sprachen sehr schnell. Ich weiß das, weil meine Kinder auf verschiedene Schulen in verschiedenen Ländern gehen und sich innerhalb eines Monats integrieren. Kinder schaffen das, wenn sie Unterstützung und ein förderndes familiäres Umfeld haben. Wenn der Staat genügend Ressourcen hineinsteckt, wird das zu einem Gewinn für die Kinder, auch für die einheimischen Kinder, denn sie sind verschiedenen Kulturen ausgesetzt. Sie wissen über Feste und Feiertage Bescheid, sie öffnen sich. Ein Kollege von mir an der London School of Economics hat über Schulen geforscht und herausgefunden, dass Kinder mit Migrationshintergrund oft andere Kinder mitziehen. Sie sind selbst ehrgeiziger und bringen das ganze Klassenzimmer dazu, sich mehr anzustrengen.

Sie glauben also, dass wir uns mehr gegen negative Narrative wehren sollten?

Ypi: Wir brauchen mehr Mut, uns zu wehren. Es liegt in der Verantwortung progressiver Akteure, zu sagen: Das Problem ist nicht die Migration, sondern die fehlende soziale Gerechtigkeit. Und ja, es gibt einen Niedergang der Sozialstandards in den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften des Westens, aber das ist nicht die Schuld der Migranten, das muss ganz klar gesagt werden.

Sondern?

Ypi: Es ist die Schuld der Kapitalisten, die ihre Macht ausgebaut und jeden Zentimeter des öffentlichen Lebens erobert haben. Das Thema Migration bietet ihnen nur eine einfache Möglichkeit, keine Verantwortung zu übernehmen. Ein Teufelskreis, weil soziale Ungleichheit nur zu immer mehr Konflikten in der Welt führt, die dann zu immer mehr Migration führen. Von selbst wird sich das Problem nicht lösen. Es wird noch schlimmer werden.

Der Westen ist auch nicht mehr das, was er mal war, seit Donald Trump im Weißen Haus sitzt. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sagte bei einem Besuch bei ihm: "Wir müssen den Westen wieder groß machen." Ein Versuch, die Kluft zwischen der EU und den USA populistisch zu überbrücken?

Ypi: Ja, absolut. Zunächst einmal sagt dieser Slogan nicht, was "der Westen" überhaupt ist. Der Westen als eine Geschichte glorreicher Triumphe und fortschrittlicher Kämpfe? Der Westen hat auch die Kreuzzüge verantwortet, den Kolonialismus, Imperialismus und Nazismus. All das kam nicht von irgendwo draußen. Darüber diskutierten die Philosophen der Frankfurter Schule: Wie konnte das passieren? Melonis einseitiger Blick wird sehr geschickt und sehr gefährlich benutzt, um die Welt in den Westen und den Rest zu polarisieren.

Sie beschäftigen sich viel mit Denkern der Aufklärung und Immanuel Kant, den postkoloniale Denker kritisieren. Es heißt, dass Kant die Welt in den vernünftigen Westen und den der Vernunft nicht fähigen Rest unterteile. Was würden Sie dieser linken Kritik entgegenhalten?

Ypi: Die postkoloniale Linke sagt über prominente Vertreter der Aufklärung, seien es Kant oder die Philosophen Adam Smith und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dasselbe: Schaut, dieser Typ war ein Rassist oder Kolonialist. Müssen wir aber nicht den Autor vom Werk trennen? Wenn es zum Beispiel um Kant geht, stellt sich für mich die Frage: Ist Kants Philosophie strukturell rassistisch oder war sie vielleicht von den Konventionen der Zeit geprägt? Das Problem ist, dass man im Namen einer Dekolonisierung der politischen Theorie am Ende überhaupt keine Autoren mehr studiert. Weil man sagt: Ich will nichts mit Kant oder Hegel zu tun haben. Aber dann fehlt die Grundlage, um kritisch zu denken.

Die London School of Economics gilt als linke Universität. Wie läuft die postkoloniale Debatte mit Ihren Studierenden ab?

Ypi: Die Debatten hier in Großbritannien sind nicht so schwierig. Egal, wie viele Kinder man hat, man wird sie alle lieben. So ist es auch mit der Vermittlung von Wissen: Wir können Gedanken hinzufügen, anstatt sie zu ersetzen. Eine Debatte, wie wir mit historischen Symbolen und Schriften umgehen, ist richtig. Als Antwort gibt es weder Gut noch Böse, wir können niemanden einfach aus dem Lehrplan streichen. Und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand das wirklich macht. Manchmal gibt es eine Tendenz unter den Rechten, zu übertreiben und zu behaupten, junge Leute würden die westliche Kultur eliminieren wollen. Was es gibt, ist eine Diskussion darüber, wie wir andere Denktraditionen einbinden können.

Ist es etwa sinnvoll, den kommunistischen Theoretiker Karl Marx im Jahr 2025 zu unterrichten?

Ypi: Natürlich. Marx wird ja nicht wie die Bibel gepredigt. Seine Bücher sind Klassiker des Denkens. Wie viele Bücher anderer Giganten, auf deren Schultern wir stehen. Mit ihrem Erbe versuchen wir, die Probleme unserer Zeit zu lösen. Aber sie sind keine Heiligen, sondern geistige Ressourcen.

Was können Studierende von Marx lernen?

Ypi: Globale Konflikte nicht auf Kulturkämpfe zu reduzieren, sondern die Ökonomie in den Blick zu nehmen. Das ist die aufschlussreichste Lektion, die sich aus dieser theoretischen Tradition ergibt. Denn Kulturkämpfe reduzieren historische Komplexität. Meine Großmutter wurde in den letzten Jahren des Osmanischen Reiches geboren. Neulich sprach ich mit jemandem über die Rechte von Homosexuellen im Islam, und ich sagte: Weißt du, was mit Schwulen im frühen 18. Jahrhundert in England und im Osmanischen Reich passiert ist? Im Osmanischen Reich mussten sie Strafe zahlen. In England wurden sie gehängt.

Sie haben Ihre Großmutter erwähnt, der Sie Ihr neues Buch "Aufrecht" widmen. Warum haben Sie diesen Titel gewählt?

Ypi: "Aufrecht" ist die Geschichte meiner Großmutter. Es ist die Vorgeschichte zu meinem ersten Buch, das während meiner Kindheit im kommunistischen Albanien spielt. In "Frei" drehte sich alles um unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit. Meine Großmutter hatte die Kant'sche Vorstellung von Freiheit als moralische Kategorie: Man ist in dem Maße frei, in dem man ein moralisches Wesen ist. Ein Mensch kann zum Beispiel aufgrund seiner moralischen Prinzipien in einen Hungerstreik treten. Ein Tier könnte das nicht. Moral ist ein Wesensmerkmal des Menschen.

Und wie kommt das im neuen Buch vor?

Ypi: Es geht um die Frage, wie meine Großmutter ihren moralischen Prinzipien treu bleiben konnte, obwohl alles in ihrer Welt dagegen sprach. Das Osmanische Reich zerfiel, in Albanien marschierten erst die Faschisten ein, dann herrschten die Kommunisten. Das Buch beginnt mit einem Zitat von Kant: Alles hat entweder einen Preis oder Würde, und das Buch handelt vom Preis der Würde. Menschen zahlen einen Preis dafür, dass sie ihre Würde bewahren - gegen die Demütigungen der Welt.

Was bedeutet Freiheit für Sie?

Ypi: Freiheit ist für mich mit moralischer Handlungsfähigkeit verbunden, die aus einer internen und einer externen Komponente besteht. Die innere Haltung ist immer da und verschwindet nie, egal ob man in Nazi-Deutschland oder im Osmanischen Reich oder im kommunistischen Albanien oder im liberalen London ist.

Und die äußere?

Ypi: Die äußere Komponente erfordert eine bestimmte Art von institutioneller Struktur, um richtig verwirklicht zu werden. Nur so kann die innere Freiheit, die eine Quelle von Spannungen, Konflikten und Leiden ist, in der Welt verwirklicht werden. Die Frage ist: Wie frei bin ich in einer Welt, in der andere völlig unfrei sind? Eines Tages werden mich ihre Schicksale sowieso erreichen -durch Migration zum Beispiel.

Befinden sich liberale Gesellschaften heute in einer Krise, weil nicht alle Menschen gleichermaßen frei sind?

Ypi: Liberale Gesellschaften befinden sich deshalb in einer Krise, weil Demokratie und Kapitalismus nicht gut zusammenpassen. Der einzige Weg, wie man Freiheit für alle garantieren kann, besteht darin, ein vollständig demokratisches System zu haben. Das bedeutet aber nicht nur, dass die Menschen wählen können. Demokratien müssten vielmehr robuste Garantien entwickeln, um Macht-und Reichtumsunterschiede zu beseitigen. Leute wie Elon Musk dürfen heute sagen, wer die deutschen Wahlen gewinnen soll. Der einzige Weg, wie man unverhältnismäßige Macht einschränkt, ist mit echter demokratischer Repräsentation und Partizipation. Das Problem ist, dass der Kapitalismus als Wirtschaftssystem dagegen arbeitet.

Sie sagen, dass der Kapitalismus nicht demokratisch ist?

Ypi: Kapitalismus ist weder demokratisch noch undemokratisch. Das einzige Motiv ist Profit, und er setzt auf jenes System, das Profit bringt. Der Markt versucht immer, den Staat zu vereinnahmen. Liberale Gesellschaften befinden sich in der Krise, weil sie nicht über die politische Vision, die Werkzeuge und die Strategien verfügen, die Beziehung zwischen Markt und Demokratie zu korrigieren. Und für sozialdemokratische Regierungen ist es schwierig, den Markt zu zähmen, solange sie das nicht auf internationaler Ebene tun.

US-Intellektuelle rund um Donald Trump sind auch Kritiker der liberalen Ordnung. Wirtschaftlich argumentieren sie gegen Globalisierung und Kapitalismus, gepaart mit konservativen kulturellen Werten. Haben Sie Autoren wie Patrick Deneen gelesen?

Ypi: Nein, aber die Faschisten der 1930er-Jahre. Mussolini tickte auch so, er kam aus einer sozialistischen Tradition. Der Faschismus ist ein Kompromiss mit dem Kapital, der das Problem der Demokratie beseitigt. Bei einer Finanzkrise versucht das Kapital Widerstand zu zähmen, und der Faschismus ermöglicht es den Kapitalisten, das zu tun. Er beseitigt demokratischen Einspruch und ermöglicht es den Eliten, untereinander Kompromisse auszuhandeln. Das ist genau das, was jetzt passiert.

Gibt es eine Alternative zu Liberalismus und Kapitalismus?

Ypi: Mein Lieblingsslogan lautet: Sozialismus ist Liberalismus minus Kapitalismus. Ich betrachte den Sozialismus als politische Theorie, als eine Radikalisierung des Liberalismus, nicht als Antagonismus. Liberalismus bedeutet politische Freiheit, Meinungs-und Versammlungsfreiheit und Pluralismus. Ökonomische Freiheit gehört nicht zwingend dazu. Denn wenn sich der Reichtum auf einige wenige konzentriert, macht er zwar eine kleine Elite frei. Nicht aber die Masse, die mit den Konsequenzen und Krisen leben muss. Um das zu überwinden, braucht es eine soziale Marktwirtschaft, die die guten, politischen Seiten des Liberalismus beibehält.

Aber kann der Sozialismus genug wirtschaftliche Produktivität schaffen, um alle Menschen zu ernähren?

Ypi: Das hängt davon ab, wie man über Anreize nachdenkt. Wenn Sie denken, dass Menschen nur ihr persönlicher Profit antreibt, dann wird es schwierig. Aber es gibt auch andere Gründe, wirtschaftlich produktiv zu sein -Anerkennung, Wissen und Freundschaft. Gerade Frauen wissen, dass wir uns um Menschen kümmern können, ohne von Profit motiviert zu sein.

Sie wünschen also einen gewaltigen Systemwechsel für Europa. Wie soll Ihr Europa aussehen?

Ypi: Ich kann es in einem Satz sagen: Ein föderales sozialistisches Europa. Ich denke, was uns fehlt, ist eine Vision. Wir stecken in einer Denkweise über die Welt fest, die von der politischen Rechten kontrolliert und dominiert wird. Wir müssen neu über Zuwanderer nachdenken. Deshalb werde ich in meiner Rede an Europa über Migration sprechen.

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