
Liberal, illiberal, scheißegal
Matthias Dusini in FALTER 43/2025 vom 22.10.2025 (S. 20)
Der Fortschritt der liberalen Gesellschaft ist in Gefahr. Zu diesem Befund kommen die deutsche Literaturwissenschaftlerin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey in ihrem neuen Buch "Zerstörungslust". Mit dem Vorgänger "Gekränkte Freiheit"(2022) lieferten die beiden eine überzeugende Analyse der Corona-Proteste. Auf Begriffe der psychoanalytisch geprägten Frankfurter Schule zurückgreifend, erklärten sie das Phänomen des Querdenkertums - das Zusammenwachsen von linksalternativen Impf-und rechten Staatsgegnern.
Damals gingen die beiden noch davon aus, dass sich der antidemokratische Backlash in Grenzen hält. Drei Jahre später ziehen sie das pessimistische Resümee: "Viele Bürger:innen westlicher Gesellschaften sind offen für faschistische Fantasien."
Amlinger und Nachtwey nennen es "demokratischen Faschismus". Damit wollen sie den neuen Autoritarismus vom historischen Faschismus abgrenzen. Beiden gemeinsam sei die Zerstörungslust. Das "frivole Spiel mit Gewalt" äußere sich in der demonstrativen Härte gegenüber Migranten und Transgender-Personen. Doch anders als in den 1920er-Jahren würde die Demokratie heute nicht abgelehnt. Damals gründeten ehemalige Soldaten in Italien und Deutschland Schlägertrupps, und der Hass auf das Parlament schwappte weit in bürgerliche Kreise hinein. Heute hingegen reklamieren die Unzufriedenen die Demokratie für sich, bezeichnen sich sogar als deren wahre Vertreter.
Wie die beiden richtig schreiben, haben die narzisstischen Allmachtsfantasien eines Donald Trump oder der aufgepumpte Männerkult der Mannosphäre wenig mit den militärisch organisierten Schwarzhemden Mussolinis zu tun. Umgekehrt erscheint die rechtsextreme Ablehnung von Gerichten und Universitäten so stark, dass das Adjektiv demokratisch kaum mehr greift. Warum also "demokratischer Faschismus"? In das Glossar der Gegenwart wird der analytisch unscharfe Begriff nicht eingehen.
Die größte Schwäche des Buchs jedoch ist das Fehlen eines einheitlichen Tonfalls. Wie in "Gekränkte Freiheit" beginnen die Kapitel zum "Blockierten Leben" oder der "Destruktivität" mit soziologischen Interviews. Sie vermitteln einen Eindruck vom "Bedürfnis nach Chaos", das vorwiegend kränkungsanfällige Männer antreibe, "die den Egalitätsschub in der Gesellschaft nicht vertragen". Dazu kommen die Ergebnisse aus Umfragen, die das Denken und Fühlen von Wählern der rechtsgerichteten Alternative für Deutschland (AfD) untersuchen.
Die Anschaulichkeit des Einzelfalls hebt sich von der stilistisch spröden Interpretation soziologischer Daten ab. Dazu kommen mäandernde Ausflüge in die Theoriegeschichte, von dem Sozialphilosophen Erich Fromm, der den Todestrieb der Faschisten als "Nekrophilie" bezeichnete, bis zu Kollegen wie Andreas Reckwitz, der den kollektiven Wunsch nach Einzigartigkeit untersuchte. "Zerstörungslust" macht Ausflüge in die totalitären Fantasien des Silicon Valley, wo KI-Propheten gegen Wokeness wettern und von der technischen Überwindung des Todes träumen.
So entsteht ein wilder Mix aus wissenschaftlicher Studie, philosophischem Räsonnement und politischer Alltagsbeobachtung, mehr Materialsammlung als schlüssige Argumentation. So stark Amlinger und Nachtwey in ihrer individualpsychologischen Deutung gekränkter Freiheitsversprechen waren, so unbefriedigend bleibt ihr Versuch, die evidente Verrohung politischer Gefühle auf eine gesellschaftliche Ebene zu heben.
  

