

Dem Morgenrot entgegen
Robert Misik in FALTER 3/2024 vom 17.01.2024 (S. 19)
Die Idee des "Fortschritts" hat schon bessere Tage gesehen. Heutige Gesellschaften sind weniger von Fortschrittsgeist und Zukunftsvertrauen beherrscht als von einem Gefühl depressiver Stockung. Es gibt zwar weiter "Fortschritte", die allgemein unumstritten sind -in der Medizin, in der Wissenschaft, bei technologischen Innovationen. Aber dass sich technologische, materielle Fortschritte und gesellschaftlicher Wandel zu einer umfassenden "Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen" (Rahel Jaeggi) addieren, wird heute eher angezweifelt.
Noch mehr gilt das für die Annahme, dass die Menschheit auf einem Kurs der Vervollkommnung sei. Walter Benjamin formulierte eine "Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt". Antonio Gramsci notierte: "Der Fortschritt ist eine Ideologie." Theodor W. Adorno fragte provokativ, ob denn der "Fortschritt von der Steinschleuder zur Megatonnenbombe" tatsächlich einer sei.
Es ist ein großtheoretischer Aufschlag, den Rahel Jaeggi, Professorin für praktische Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität, in "Fortschritt und Regression" versucht. Quasi: Das Konzept des "Fortschritts" retten. Jaeggi ist Spezialistin für rettende Kritik, die abgestandene Begriffe abstaubt. Schon vor beinahe 20 Jahren hat sie das mit dem Begriff der "Entfremdung" auf fulminante Weise getan.
Über weite Strecken nimmt Jaeggi nunmehr die Fortschrittsidee analytisch auseinander. Protokolliert wird, was an ihr fragwürdig und nützlich ist. Es sind famose und lehrreiche Kapitel. Mit dem Fortschrittsbegriff können koloniale Gemetzel gerechtfertigt werden, etwa, dass der Westen den "Wilden" den "Fortschritt" bringe. Genauso kann er Unterdrückte anspornen, gemäß dem Motto: "Wir sind heute geknechtet, aber die Zukunft gehört uns." Moralischer Fortschritt ist mehr als Wandel, er führt dazu, dass Ansichten der Vergangenheit kaum mehr verständlich sind.
Heute sind, darauf kann man sich vielleicht schnell einigen, Fortschritt und Regression im Widerstreit. Aber was ein Fortschritt sei und was nicht, hängt von umkämpften moralischen Vorannahmen ab, oder von Ideen einer "idealen Gesellschaft", der man sich in allmählichen Schritten annähere. Aber nicht nur die utopischen Ziele haben sich verflüchtigt, mehr noch: Was für die einen ein Fortschritt zum Guten, ist für die anderen eine Abweichung vom Richtigen.
Jaeggis ausgedünntes Fortschrittskonzept: "Gesellschaften haben kein Ziel, sie lösen Probleme." Fortschrittliche Problemlösungen sind solche, die sich als "Anreicherungsprozess" darstellen lassen, also als neue, komplexe, selbstreflexive Lösungen, während Regression der Rückfall hinter schon erreichte Einsichten ist.
Regression stemmt sich gegen die Wirklichkeit und sei, so Jaeggi, daher eine "Verstetigung von Prozessen des Scheiterns". Freilich: Die Unbequemlichkeit, dass es da draußen keinen Standpunkt höherer Wahrheit gibt, vermag auch Jaeggis Fortschrittskonzept nicht aufzulösen.
Ihr Leitmotiv: Wir sollen Fortschritt weniger als einen Fortschritt hin zu einem Ziel, mehr als einen Fortschritt weg von einem Problem verstehen. Was man als "Verbesserung" beurteilt, wird sich aber normativen Urteilen, die immer umstritten sind, nicht entziehen können.
Das "Fortschrittsgefühl" ist eines dieser merkwürdigen Dinge, die fragwürdig bis zur Fiktion sind, ohne die man aber Gesellschaften oder gar die Menschheit kaum voranbringt. Die Rückeroberung der Zukunft ist deshalb ein politischer Akt. Jaeggi: "Keine Geschichtsphilosophie ist auch keine Lösung."