

Nachdenken über das Anthropozän
André Behr in FALTER 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 49)
Jürgen Renn, 66, ist ein international bestens vernetzter Wissenschaftshistoriker, der als Gründungsdirektor und Wissenschaftliches Mitglied seit 1994 mit dem Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin verbunden ist. Als Physiker und promovierter Mathematiker war er von 1986 bis 1992 auch Mitherausgeber der „Collected Papers of Albert Einstein“, ein Mammut-Projekt der Princeton University Press, das mehr als 30.000 Dokumente verarbeiten will und bereits bei Band 16 angelangt ist. Damit ist das vielfältige Schaffen des 1955 verstorbenen Genies allerdings erst bis zum Jahr 1929 aufgearbeitet.
Auch Renns eigene Publikationsliste ist beeindruckend lang und thematisch vielschichtig. In seinem jüngsten, großzügig bebilderten Werk holt er nochmals mit großem Schwung aus. Er beschreibt nicht weniger als „die Zeitspanne von den Ursprüngen des menschlichen Denkens bis zu den aktuellen Herausforderungen des Anthropozäns“. Bei diesen Reflexionen über „das vom Menschen geprägte Zeitalter der Erdgeschichte“, wie der Duden das Fremdwort übersetzt, fächert er in 17 Kapiteln die gesamte Wissenschafts- und Technikgeschichte der Menschheit auf: von der Erfindung der Schrift über die wissenschaftliche Revolution der Neuzeit bis zur Industrialisierung und Digitalisierung.
Konkret verknüpft Renn in seinem über 1000 Seiten starken Werk „vielfältige historische und geografische Horizonte“ miteinander. Im Unterschied zum traditionellen Ansatz, die Geschichte von Wissenschaft und Technologie anhand der jeweiligen Innovationen zu erzählen, richtet er das Augenmerk mehr auf die Weitergabe des Wissens. Vielfach, schreibt er, sei es gerade das weniger spektakuläre Wissen wie etwa über Optik gewesen, das zu den gefeierten Entdeckungen und Erfindungen geführt habe.
„Dieses Wissen“, schreibt Renn, „zeigt teilweise eine verblüffende Stabilität und Haltbarkeit, und zwar nicht selten über große Zeiträume mit Phasen grundlegender Umwälzungen hinweg. In ähnlicher Weise haben seit den Anfängen der menschlichen Kultur der interkulturelle Wissenstransfer und die damit einhergehende Transformation dieses Wissens die technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften geprägt.“
Um ihren Ansatz verständlich vermitteln zu können, haben sich Renn und sein Team an der Biologie orientiert. Dort werden allgemeine Muster gerne anhand eines Modellorganismus erläutert, beispielsweise an der Drosophila melanogaster, einer Art aus der Familie der Taufliegen. An ihnen wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Wirkung von Inzucht studiert. Man beobachtete die Effekte, die nach Kreuzung in Inzuchtlinien auftraten. Unter anderem erhielt man dadurch wichtige Erkenntnisse über die Anordnung von Genen in Chromosomen.
Gegliedert ist Renns „Neubestimmung der Wissenschaft“ in fünf Teile. Im ersten diskutiert der Autor, was Wissenschaft und was Wissen ist. Im zweiten lernen wir, wie sich Wissensstrukturen wandeln, im dritten, wie diese die Gesellschaft beeinflussen. Danach führt er aus, wie sich Wissen verbreitet, um im fünften Teil festzuhalten, von welchem Wissen unsere Zukunft abhängt. Zu beachten ist, dass Wissenschaft nicht von sich aus eine treibende Kraft war, sondern wissenschaftliche Praktiken über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte von zufälligen äußeren Umständen abhing, etwa der Förderung durch Mäzene.
„Erst durch die kapitalistische Produktionsweise“, schreibt Renn, „wurde die Wissenschaft zu einem wichtigen Produktionsfaktor. Im Laufe der industriellen Revolution wurden Wissenschaft und Technologie mit weitreichenden Folgen für den gesamten Planeten in die expansive Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft eingebunden. Aber im Verlauf dieses Prozesses und wegen seiner Auswirkungen auf den ganzen Planeten haben sich Wissenschaft und Technologie von Randbedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung zu unabdingbaren Faktoren der kulturellen Evolution gewandelt, unabhängig davon, auf welcher Wirtschafts- oder Gesellschaftsorganisation diese in Zukunft beruhen wird.“
Weiteren Hinweisen für den „Beginn eines neuen Evolutionsprozesses jenseits der kulturellen Evolution“ spürt Renn in den letzten Kapiteln nach. „So wie die Evolution des Lebens“, schreibt er, „hat auch die Wissensentwicklung eine Richtung, ohne global einheitlich zu verlaufen. Sie ist weder deterministisch noch teleologisch.“ Zufallsereignisse, die in den Prozess der Wissensentwicklung integriert werden, können langfristige Auswirkungen haben.
Angesichts aller aktuellen globalen Herausforderungen, die zu bewältigen sind, rät der Wissenschafter, sollten wir „lokale Perspektiven einbeziehen und neue Wege finden, um problemorientierte Forschung mit der Lehre und dem Lernen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft zu verbinden. Bürgerschaftliches Engagement und Zivilcourage werden in den uns unvermeidlich bevorstehenden globalen Transformationsprozessen ebenfalls eine unverzichtbare Rolle spielen.“
Eine derart komplexe Herausforderung zu meistern, fasst der Autor zusammen, „erfordert eine Entwicklung neuer Curricula und Forschungsagenden, die Verzahnung multipler Wissensdimensionen und die kritische Auseinandersetzung mit der Verflechtung von Wissen mit politischen, ökonomischen und moralischen Fragestellungen“. Eine Mammutaufgabe, die ein Zusammenspiel von Gesellschaft, Wissenschaft und Politik verlangt.
Eine Mammutaufgabe ist auch das Lesen von Jürgen Renns Buch. Sie anzugehen lohnt sich, denn derart geistig anregend und umfassend ist die Komplexität des Anthropozäns wohl kaum je analysiert und beschrieben worden.