

Der Groll ist eine emotionale Pest, die uns vergiftet
Robert Misik in FALTER 32/2023 vom 11.08.2023 (S. 15)
Dieses Buch ist ein Ereignis. In Frankreich hat es wie ein Meteor eingeschlagen und seine Autorin in den Kreis der führenden Denkerinnen des Landes katapultiert. Jetzt ist endlich auch die deutsche Übersetzung erschienen: "Hier liegt Bitterkeit begraben" heißt das Werk von Cynthia Fleury. Die Verbitterung und das Ressentiment sind für die Autorin "die gefährlichste Krankheit für die Demokratie". Es geht um den Groll, der aus realen Verwundungen entspringt und so leicht in Starrsinn, Aggression und Feindseligkeit umschlägt. Fleury ist Philosophin und Psychoanalytikerin, sie ist Professorin für Geisteswissenschaften und Gesundheit am Conservatoire National des Art et Métiers in Paris und Professorin am Hospital Sainte-Anne der GHU Paris für Psychiatrie und Neurowissenschaften.
Auch andere Theoretiker haben schon den Begriff der "posttraumatischen Verbitterungsstörung" (Michael Linden) diskutiert. Fleury beruft sich auf Max Scheler und Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche und Alexis de Tocqueville. Auch Adornos Studien über den autoritären Charakter und Frantz Fanons Überlegungen zu den psychischen Verheerungen der Seelen der Kolonisierten fehlen bei ihr nicht.
"Es grollt", schreibt Fleury. Der Groll ist eine Waffe der Schwachen, einerseits, der Deklassierten, die empfinden, verächtlich gemacht zu werden. Er läuft Gefahr, in ein Wahnsystem übersteigert zu werden, in eine "querulatorische Paranoia" - und das schon durch den geringfügigsten Affront. Der demokratische Instinkt und die antidemokratische, autoritäre Zerstörungswut liegen eng beieinander. Der demokratische Instinkt des Egalitarismus macht die Menschen sensibler für ungerechtfertigte Ungleichheiten, doch in dem gleichen Moment führt er dazu, dass sich die Menschen als ungleich, als benachteiligt, als Opfer von Unfairness empfinden. "Das Ressentiment entsteht durch eine Diskrepanz zwischen den anerkannten und gleichen politischen Rechten und der Realität konkreter Ungleichheiten." Das Buch ist voll solcher schlauer Beobachtungen.
Der Groll mag berechtigt sein, macht das von der Störung befallene Subjekt aber auch dysfunktional. Es ist krank. "Eine Person, die diese Störung hat, gibt ihre Fehler nie zu, ist aggressiv und provoziert andere, hat unbeherrschte Wutausbrüche, ist pathologisch unaufrichtig, überempfindlich." Alle anderen werden für die wahrgenommene Dysfunktion verantwortlich gemacht. Diese Menschen wollen autoritär aufräumen, sind zugleich aber antiautoritär. Sie lieben den Führer, verachten aber jede Regel. Sogar vernünftige. Es braucht Heilung.
Fleury weiß natürlich, dass es eine schwierige Operation ist, gesellschaftliche Krisen der Demokratie und individuelle psychische Verbitterung derart ineinander zu verzahnen. Wer auf die Differenz von "Gesellschaftskörper" und Individuum verweise, habe recht. Doch "unsere Gesellschaften bestehen nunmehr aus 'Individuen'". Keine Theorie der Gesellschaft ist brauchbar, wenn sie nicht auch zeigt, wie Störungen des Einzelnen auf das Allgemeine zurückwirken.
Die verächtlich Gemachten und sich unfair behandelt Fühlenden haben Recht auf Groll, aber das "Auskotzen" ist kein Weg ins Freie, davon ist Fleury überzeugt. Auch das Opfer muss ins Freie, nicht ins Gefängnis der Verbitterung -"ins Offene", wie Fleury das nennt. Denn der Faschismus ist eine "emotionale Pest", die nicht nur eine Gesellschaft, sondern auch das von ihm befallene Individuum vergiftet.