

Wie die widerspenstige Wirklichkeit zähmen?
Oliver Hochadel in FALTER 42/2023 vom 20.10.2023 (S. 36)
Lorraine Daston ist so etwas wie die Grande Dame der Wissenschaftsgeschichte. Die US-Amerikanerin besticht durch ihre Fähigkeit, Jahrhunderte umfassende Entwicklungen sichtbar zu machen. „Objektivität“ heißt ihr bekanntestes Buch. Nun hat sie „Regeln. Eine kurze Geschichte“ vorgelegt. Kurz? Die über 400 Seiten sind zumindest kurzweilig, pointiert und mit intellektuellen Schmankerln garniert. Daston fasst ihren Regelbegriff bewusst weit: Sie inkludiert alle Arten von Vorschriften, Normen und Gesetzen in einem großen historischen Bogen von Platon bis zur Corona-Pandemie. Also: Klosterregeln, Handwerkerwissen, Verkehrsregeln, Naturgesetze, Algorithmen, Rechtsprechung, Naturrecht.
Ist das nicht allzu beliebig? Nein, denn Daston verweist auf einen gemeinsamen Kern dieser Regelmanie: die Mühen der Menschen, die widerspenstige Wirklichkeit in den Griff zu bekommen. Denn jedes Regelwerk muss mit Ausnahmen und Unvorhergesehenem zurechtkommen. Und dann müssen die Vorschriften ja auch noch ausgelegt, angepasst und erneuert werden. Da keine Regel alle möglichen Einzelfälle abdecken kann, stellt sich stets die Frage nach individuellem Ermessen, Toleranz, Erfahrungswissen und Feingefühl, über das Äbte, Richter, Ärzte, Politiker und auch Mathematiker verfügen sollten. Denn selbst im Reich der Zahlen und Formeln lauert hinter mancher Gleichung begriffliche Unschärfe. So öffnet sich der Blick auf die unvermeidlichen Aushandlungen, Konflikte und Notlagen: Etwa: Wann darf sich der Herrscher über das Gesetz stellen?
Daston erzählt letztlich auch eine Geschichte der Zivilisation, die den Zufall und das Unvorhergesehene unter Kontrolle bringen und menschliche Willkür durch ein fein geöltes Räderwerk an Vorschriften einhegen will. Dies gelingt mal schlechter, mal besser. Die Obrigkeiten erließen seit dem Mittelalter Kleidervorschriften (Keine Goldknöpfe! Kein Hermelin!), die oft nicht einmal ignoriert wurden. Es dauerte Jahrhunderte, bis die Stadtbewohner ihre Nachttöpfe nicht mehr auf die Straßen ausleerten. Zu gut hingegen funktionierte die Standardisierung der Rechtschreibung, wie der verlässlich ausbrechende Volksfuror beim kleinsten Reformversuch belegt.
Langfristig sieht Danton einen Trend von „fülligen“ Regeln (umfangreich, flexibel, erfahrungsgesättigt, personengebunden) hin zu schlanken Regeln (kurz, präzise, in Vorschriften formalisiert, starr). Wir alle wissen, wie trügerisch die „Sicherheit“ ist, alles reguliert zu haben. Letztlich ist nur eines gewiss: Die nächste Ausnahme kommt bestimmt.