

Wie Israel zur Geisel der Hamas und der Siedler wurde
Tessa Szyszkowitz in FALTER 18/2024 vom 02.05.2024 (S. 20)
Schon am Buchrücken heißt es: „Juden und Araber müssen Palästina untereinander aufteilen und miteinander leben – oder sie werden miteinander sterben.“ In „Niemals Frieden? Israel am Scheideweg“ zieht der israelische Historiker Moshe Zimmermann eine für ihn logische Lehre aus der Geschichte Israels – und auch des 7. Oktobers 2023. Kaum erschienen, ist Zimmermanns schmaler Band schon für den Deutschen Sachbuchpreis 2024 nominiert.
Der zweisprachige Israeli, 1943 in Jerusalem geboren, hat das Buch auf Deutsch geschrieben. Moshe Zimmermanns Eltern waren Hamburger Juden. Der Historiker weiß um die Besonderheit des deutschen Verhältnisses zu Israel. Er bemüht sich zu Beginn gleich um eine Klarstellung: „Kontextualisieren sollte nicht mit Relativieren verwechselt werden.“ Er erinnert daran, wie die ehemalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel 2008 in ihrer Rede vor der Knesset sagte: „Diese historische Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson meines Landes.“
Rasend schnell haben sich in den vergangenen Monaten propalästinensische Demonstrationen an US-Universitäten in antikolonialen Protest verwandelt. Zimmermann macht sich wohl auch angesichts der Bilder vom Campus der Columbia University noch einmal die Mühe, die Ursprünge des Zionismus nachzuzeichnen: Die frühen Zionisten seien keine einheitliche Bewegung gewesen. Und keine klar rassistisch motivierte Kolonialmacht. Auch die Israelis waren nach ihrer Staatsgründung 1948 gespalten in die Arbeitspartei, die für die Teilung Palästinas eintrat. Und die Revisionisten, die von Ganz-Israel träumten.
Aber nicht nur die historische, auch seine Analyse der gegenwärtigen israelischen Politik soll die deutsche Leserschaft wohl zum Nachdenken anregen. Die Chancen des Oslo-Friedensprozesses in den neunziger Jahren unter dem damaligen israelischen Premier Jitzhak Rabin wurden, so Zimmermann, vom derzeitigen Staatsführer Benjamin Netanjahu mutwillig ruiniert. Die Siedlerbewegung gewann im Schatten seiner Regierung immer mehr Macht.
Zimmermanns Fazit: „An der Stelle des vormaligen säkularen, sozialliberalen Pferds zieht nun der nationalistisch religiöse Wolf die Karre.“
Zimmermann zitiert einen Bericht des Instituts Molad, wonach der Staat Israel über Steuererleichterungen und Subventionen für Siedler in der Umgebung von Hebron im Jahre 2014 350 Euro pro Kopf ausgab. Entlang der Gaza-Grenze gab es nur bis 22 Euro pro Kopf. Die Siedlungen im besetzten Gebiet wuchsen.
Die Siedler im Westjordanland wurden gegenüber den Palästinensern immer aggressiver, schreibt Moshe Zimmermann, weshalb die israelische Armee dort vermehrt eingesetzt werden musste. Die israelischen Zivilisten an der Grenze zu Gaza dagegen blieben, das zeigte der 7. Oktober auf entsetzlichste Weise, nicht genug geschützt.
So macht der Historiker einen Schnitt zur Gegenwart: Er verurteilt die Hamas für das Massaker am 7. Oktober an israelischen Geiseln. Und setzt fort: „In Wahrheit geht es um ein viel größeres Geiseldrama … die israelische Gesellschaft als Geisel der Ganz-Israel-Ideologie oder konkreter der Siedlerbewegung, die den Weg zur Zweistaatenlösung versperrt.“
Es lohnt sich, wie Zimmermann anmerkt, Merkels Staatsräson-Rede zu Ende zu lesen.
Da sagte sie nämlich: „Deutschland setzt gemeinsam mit seinen Partnern auf eine diplomatische Lösung.“