

Auf der Straße
Anna Goldenberg in FALTER 27/2024 vom 05.07.2024 (S. 26)
Dasani ist elf Jahre alt und die beste Reckturnerin am Spielplatz. Das Zuhause, in das sie abends kommt, ist das Zimmer einer Obdachlosenunterkunft in Brooklyn, das sie sich mit ihren sieben Geschwistern und ihrer Mutter teilt. Dasani ist eines von mittlerweile fast 120.000 Kindern im Schulalter, die in der Acht-Millionen- Einwohner-Metropole New York ohne festes Zuhause leben. Andrea Elliott, Journalistin der New York Times, hat das Mädchen und seine Familie von 2011 bis 2019 begleitet. Von der Crack-Abhängigkeit der Mutter über den Kampf um staatliche Unterstützung und Sorgerecht bis zu den Verhaltensproblemen von Dasani selbst erzählt Elliott die Geschichte des Erwachsenwerdens eines Mädchens – mit Empathie und Grautönen. Durch die akribische Recherche veranschaulicht das Buch, dass es keine einfache Antwort auf die große Frage gibt, wie Veranlagung, Elternhaus und Umwelt ein Leben prägen. Das Buch gewann 2022 den Pulitzerpreis für ein Sachbuch.
Ohne Obdach: Eine Kindheit in Brooklyn
Sara Schausberger in FALTER 15/2024 vom 12.04.2024 (S. 32)
Chanel nennt ihre erste Tochter nach einer edlen Wassermarke: Dasani. Wer Wasser in Flaschen kaufen könne, müsse viel Geld haben, denkt Chanel, die selbst den Namen einer Luxusmarke trägt, aber ihr Leben lang in Armut gelebt hat.
Dasani steht im Zentrum von Andrea Elliotts packendem Buch "Kind im Schatten. Armut, Überleben & Hoffnung in New York City". Über acht Jahre lang hat die amerikanische Investigativjournalistin das Mädchen begleitet. Zu Beginn der Sozialreportage leben die Eltern Chanel und Supreme sowie ihre acht Kinder in einer Brooklyner Obdachlosenunterkunft. Dort huschen Mäuse und Kakerlaken über den Boden. Es ist eigentlich eine Notunterkunft, für Dasani und ihre Geschwister wird diese aber jahrelang zum Zuhause.
Elliott kommt der Familie beeindruckend nah. Sie übernachtet bei ihr und stattet sie mit Kameras aus. Sie ist dabei, als das Jugendamt den Eltern die Kinder abnimmt und in Pflegefamilien steckt. Sie wohnt Geburtstagsfeiern und Gerichtsverhandlungen bei, erlebt, wie Chanel einen Drogenentzug nach dem anderen abbricht und Dasani ihrem Leben eine neue Wendung gibt.
So entsteht auf 700 Seiten ein intimer Einblick in eine von Armut und Rassismus betroffene schwarze Familie. Dabei verliert die Autorin nie das größere Ganze aus dem Blick: Sie spannt den Bogen von der Sklaverei über strukturellen Rassismus bis zur Gentrifizierung Brooklyns. Sie beschreibt, was die Amtszeiten der jeweiligen Bürgermeister für Kinder wie Dasani bedeuten. Und sie zeigt auf, wie groß die Rolle eines einzelnen Richters ist und wie wichtig engagierte Lehrkräfte und Sozialarbeiter sind.
Elliott erhielt für das Buch zu Recht den Pulitzer-Preis. Als es 2021 im Original erschien, lebten allein in New York City 1,38 Millionen obdachlose Kinder. Empathisch offenbart die Autorin anhand eines Einzelschicksals, was sozialpolitisch in den USA falsch läuft. Das geht ausgesprochen nahe.