Ist heute schon morgen?

Wie die Pandemie Europa verändert
96 Seiten, Hardcover
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ISBN 9783550201264
Erscheinungsdatum 15.06.2020
Genre Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft/Gesellschaft
Verlag Ullstein Buchverlage
Übersetzung Karin Schuler
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Ullstein Buchverlage GmbH
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Kurzbeschreibung des Verlags



Ein Virus war nötig, um die Welt auf den Kopf zu stellen. Wie wird die Welt danach aussehen? Ivan Krastev, einer der wichtigsten Intellektuellen der Gegenwart, gibt Orientierung in Zeiten der Ungewissheit.


»Es gibt Momente, in denen sich unsere Gewissheiten auflösen und sich unsere kollektive Vorstellung von dem, was möglich ist, dramatisch ändert. Die Menschen beginnen, die Gegenwart zu ignorieren und stattdessen über die Zukunft nachzudenken – die Zukunft, die sie sich erhoffen, oder die Zukunft, die sie fürchten.« 

»Ivan Krastev ist einer der großen europäischen Denker unserer Zeit.« Timothy Snyder

»Krastev zu lesen ist ein Genuss, denn in seiner stilistischen Kunst finden die Liebe zur Literatur, die politische Illusionslosigkeit und die Schönheit des Gedankens zusammen.« Elisabeth von Thadden, Die Zeit  

»Ivan Krastev ist einer dieser Philosophen, die auch Geschichtenerzähler sind; seine Pointen, Witze, Anekdoten sind Wegweiser, während er von einem Gedanken zum nächsten wandert.« Lothar Gorris, Der Spiegel





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FALTER-Rezension

Die USA wissen nicht mehr, wer sie sind

Eva Konzett in FALTER 24/2020 vom 12.06.2020 (S. 14)

Covid-19 hat Ivan Krastev das Kartenspiel wieder näher gebracht. Nach einem sechsmonatigen verpflichtenden Arbeitseinsatz im damals noch sozialistischen Bulgarien hatte er sich als junger Mann geschworen, die Karten nie wieder anzugreifen. Sechs Stunden hatte ihn sein Vorgesetzter täglich mit einem simplen Kartenzählspiel gequält. Krastev, der am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen forscht und in Wien lebt, kehrte zu Beginn der Pandemie gemeinsam mit seiner Familie nach Bulgarien zurück. Die reflektiertesten Tage seines Leben habe er dort gehabt, erklärt er und beschreibt seine Isolation doch mit den Worten des Dichters Joseph Brodsky, der das Wesen der Gefangenheit so beschrieb: „Ein Mangel an Platz, gut gemacht durch einen Überfluss an Zeit“.

Falter: Sie sind 69 Tage in einem kleinen Dorf an der bulgarisch-griechischen Grenze gesessen und haben über Sars-CoV-2 nachgedacht. Was haben Sie über den Erreger erfahren?

Ivan Krastev: Dass er keine gute Geschichte abgibt. So wie Pandemien es nie tun. Wir lernen in den Schulen, wie Kriege die Welt verändern. Wir erinnern uns an die Kriege gut, weil sie Protagonisten haben, weil der Mensch in Kriegszeiten etwas tut: Er muss die Menschheit, die Nation retten, er kämpft, er stirbt, er opfert sich heroisch. Während Covid-19 sind wir zuhause geblieben. Den höchsten Grad an Solidarität zeigte derjenige, der überhaupt nicht mehr vor die Haustüre trat. Die Pest, die Spanische Grippe, die Seuche hat den Planeten wesentlich verändert. Aber man konnte das nie erzählen.

Die Covid-19-Pandemie ist die erste Seuche des Global Village. Wir stecken alle drin.

Krastev: Exakt. Die Leute haben Globalisierung lange als politisches Phänomen verstanden und nicht als Teil ihres Lebens. Der Bewohner eines kleinen bulgarischen Dorfes, wie soll er glauben, dass etwas, was auf einem chinesischen Markt passiert ist, tatsächlich das eigene Leben beeinflusst?

Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, dass die Covid-Krise das Beste in den Menschen, aber das Schlechteste in den Regierungen hervorbringen kann. Auch mit Blick auf die USA?

Krastev: Die Bilder, die wir aus den USA auf unseren Bildschirmen zu sehen bekamen, das waren Bilder eines dysfunktionalen Staates. Dieser Staat investiert 17 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in Gesundheit, und dann schaut es aus wie in Bulgarien. Das hat viele schockiert, das hat das Bild über die USA verändert. Das ist die erste globale Krise ohne die Amerikaner. Davor konntest du für oder gegen die Amerikaner sein. Aber sie waren da. Die USA ziehen sich jetzt in sich selbst zurück. Und China, das man in Europa immer als genügsamen Riesen gesehen hat, der nur seine ökonomischen Interessen verfolgt, hat in der Covid-19-Krise sein hässliches Gesicht gezeigt. Es ging nicht um das Vertuschen des Covid-Beginns, das lässt sich leicht mit der Natur des chinesischen politischen Systems erklären. Es ging um die aggressive Haltung, mit der China versucht hat, sich als erfolgreichen Virusbekämpfer in der globalen Sichtweise zu positionieren. Den Europäern hat die Krise letztendlich eines klar gemacht: Wie alleine wir auf der Welt sind.

Für die 100.000 toten Amerikaner wird nie jemand ein Monument errichten. Sie haben die Cover-Seite der New York Times gehabt. Mehr nicht. Ihr Essay verweist auf einen interessanten Punkt der Ungleichheit: Es geht nicht unbedingt um die Ungleichheit von Chancen, sondern wer wie stark der Gefahr ausgesetzt ist. Es macht nicht nur den Unterschied, in eine annehmbare Schule gehen zu können, sondern auch, nicht auf einer Pritsche im Spitalsgang achtlos liegengelassen zu sterben.

Krastev: Natürlich wussten wir, dass es Ungleichheit in den USA gibt. Aber in dem Moment, in dem du beginnst, dir Sorgen wegen Covid-19 zu machen, erkennst du alle deine vulnerablen Stellen. Bluthochdruck. Herzgeschichten. Diabetes. Das zählt dann alles. Die Afroamerikaner haben a) einen generell schlechteren gesundheitlichen Status als die weiße Bevölkerung, und b) arbeiten sie in Jobs, wo man sich einfacher anstecken kann. Man hat den Leuten gesagt: Bleibt zuhause. Aber es gibt Leute, die kein Zuhause haben. Und es gibt Leute, die haben noch ein zweites Zuhause.

Menschen in der Seuche fürchten sich, das macht sie passiv. Die Revolte geht immer von Zornigen, von Frustrierten aus. War der gewaltsame Tod von George Floyd der Wendepunkt?

Krastev: Es ist wohl komplexer als das. Floyds Tod war kein Unfall, immer wieder haben Polizisten unbewaffnete schwarze Zivilisten getötet. Warum kommt es jetzt zu diesen großen Protesten? Ich sehe drei Punkte: Erstens: Die Menschen waren zuvor lange zuhause eingesperrt gewesen. Auf der Straße zu sein, zu demonstrieren bedeutet aber für viele, vor allem für junge Aktivisten, dass sie in einer Demokratie leben. Man tritt den demokratischen Beweis nicht mit der Wahlkarte, sondern mit den Füßen an. Zweitens geht es natürlich um Präsident Donald Trump. Und drittens: Diese jungen Leute wollen feiern, dass sie jung und am Leben sind. Nach zwei Monaten im Shutdown wollen sie jedem sagen, was sie fühlen. Sie haben genug davon, öffentliche Plätze nicht betreten zu dürfen, sie wollen kein Social Distancing mehr. Nicht nur in den USA sind Hunderttausende auf die Straße gegangen. Ich möchte nicht sagen, dass es ihnen nicht um die Sache geht. Aber es geht auch um mehr.

Sind die USA ein scheiternder Staat? Sehen wir das Ende eines hegemonialen Konzepts, das um Washington zentriert war?

Krastev: Dass es nicht mehr klar ist, was es heißt, Amerikaner zu sein, darin sehe ich das wesentliche Problem. Ähnlich wie bei den Unruhen 1968, die aufgezeigt haben, wie sehr die eigenen Ideale nicht mehr mit der Realität zusammengehen (nach der Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King am 4. April 1968 kommt es in mehr als 100 Städten der USA zu Gewaltausbrüchen. 36 Menschen sterben und über 2000 werden verletzt, die Nationalgarde wird eingesetzt, Anm.). Der amerikanische Traum funktioniert auch heute für niemanden mehr. 20 Jahre nach 9/11, dem Moment, in dem die USA sehr geeint war, sehen wir in den USA einer Art Wahlkampfkrieg. Und ich fürchte tatsächlich, dass Trump, sollte er die kommenden Wahlen verlieren, die Niederlage nicht anerkennen könnte. Vor allem, wenn die Niederlage eine knappe sein wird. Keine der beiden Seiten, weder die Republikaner noch die Demokraten, ist bereit, mit der Idee zu leben, die Wahl zu verlieren. Psychologisch gesehen sind wir nicht weit von den Zuständen vor dem amerikanischen Bürgerkrieg 1861 entfernt. Selbst wenn der demokratische Kandidat Joe Biden Präsident werden sollte, werden sich die Dinge nicht so einfach ändern. In der kommenden Dekade werden die USA damit beschäftigt sein, sich zu überlegen, wer sie eigentlich sein wollen. Mit und ohne Trump.

Die EU hat nicht die eine große Erzählung, was es heißt, Europäer zu sein. Fanfaren, Trompeten und Fahnen gibt es nicht. Aber die EU-Kommission hat einen sehr kühnen Post-Corona-Aufbau-Plan vorgelegt und will 750 Milliarden Euro für den Wiederaufbau aufnehmen. Die EU hat eine klare Idee von der Zukunft gezeichnet.

Krastev: Es geht jetzt um alles oder nichts. Diese Krise ist auch nicht die Niederkunft aller vergangenen Krisen in einem, auch wenn das auf den ersten Blick so ausschaut. Die Maßnahmen zur Überwachung erinnern zwar an den Krieg gegen den Terror, die geschlossenen Grenzen und der wachsende Nationalismus erinnern an die Flüchtlingskrise, wenn wir die Summen anschauen, mit denen gerade hantiert wird, kommt uns die Finanzkrise von 2008 in den Sinn. Covid-19 bedingt aber radikal andere Antworten, wie sie die EU auf diese Ereignisse gefunden hat. Die Überwachung während der Covid-19-Krise, also aus Gesundheitsgründen, können wir viel eher akzeptieren als die während eines Kriegs gegen den Terror. Der Nationalismus, den diese Krise befeuert, fußt nicht auf Ethnie, sondern auf Aufenthalt. Social distancing ist für jeden da. Und wenn wir uns an die Mantren der Finanzkrise erinnern – wir helfen nur unter strikter Spardiktion und wir werden niemals Schulden vergemeinschaften, auch keine künftigen –, dann sehen wir jetzt das genaue Gegenteil. Die Defizit-Regeln hat die EU längst ausgesetzt. Was der französische Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel vorschlugen, was die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in den 750-Milliarden-Aufbau-Plan goss, ist im Grunde die Vergemeinschaftung künftiger Schulden.

Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz von den Sozialdemokraten hat den Plan als Hamilton-Moment bezeichnet. Der erste amerikanische Finanzminister Alexander Hamilton hatte 1790 eine gemeinsame Steuerpolitik auf föderaler Ebene durchgesetzt.

Krastev: Ich glaube, dass der Plan die EU deutlich stärken wird. Es ist eine Chance. Es macht auch einen Unterschied, wenn die EU künftig selber Steuern einheben können wird: Eine CO2-Steuer oder die Digitalsteuer. Aber von einem Hamilton-Moment zu sprechen ist falsch. Es wird zu keiner Föderalisierung der EU kommen. Die Menschen stützen sich in der Krise mehr denn je auf den Nationalstaat. Sie sind bereit die Kooperation auf europäischer Ebene voran zu treiben, wenn es den Nationalstaat stärkt, weil sie nicht völlig irrelevant in der Welt sein wollen. Hören Sie genau hin, wie Angela Merkel ihren Aufbauplan vor den Deutschen rechtfertigte. Das waren nicht Worte der Solidarität, es sprach das deutsche Interesse aus ihr. Der britische Historiker Alan Milward konstatierte, dass das europäische Projekt in den 1950er-Jahren nicht von europäischen Föderalisten, sondern von gestandenen Nationalstaatlern gemacht wurde: Denken Sie an Konrad Adenauer, an Charles de Gaulle. Aber dass diese Politiker wussten, dass ihre Staaten in den Augen der eigenen Bevölkerung delegitimiert waren und dass sie ihre wirtschaftlichen Güter nach dem alten Modell nicht verkaufen konnten. So kommt es zu der lustigen Geschichte, dass die Integration Europas von Menschen vorangetrieben wurde, die keine übergeordnete Idee von Europa hatten. Ich sehe in dem Paradigmenwechsel Merkels, in dem Aufbauplan weniger den Hamilton-Moment als einen Milward-Moment: Nationalstaaten sind bereit, mehr Kompetenz und Macht an Brüssel abzugeben, um die eigene Macht abzusichern.

Wie soll das gehen?

Krastev: Es ist zum Beispiel viel einfacher für die EU, einen Konzern wie Google zu besteuern, als wenn das jeder Einzelne machen muss. Und Google dann umgekehrt Druck auf einzelne Staaten ausübt. Paradoxerweise ist die EU derzeit keine Wahlunion, sondern eine Schicksalsgemeinschaft. Wir verstehen, dass wir zusammenstehen müssen, aber wir mögen uns eigentlich nicht so sehr. Wir sehen eine Integration aus Selbstverteidigung heraus, nicht aus sich selbst. Das hat keine transformative Kraft, aber es hat Wirkung: Stellen wir uns vor, die EU, mit der eigenen Marktmacht im Rücken, erhebt künftig eine Steuer auf jedes Gut, das umweltschädlich produziert und eingeführt wird. Dann haben wir eine neue Art progressiven Protektionismus. Das ist eine Möglichkeit, wie Europa das Verhalten der anderen noch mitbestimmen kann. Viele andere Instrumente haben wir nicht: Nehmen wir die Sicherheitsfragen: Da ist Europa völlig abwesend.

Kann die EU das stemmen? Sie ist durch die vergangenen Krisen, durch die Eurokrise, durch die Flüchtlingskrise, den Brexit geschwächt.

Krastev: Manchmal kann deine Schwäche dich eher zusammenhalten als deine Stärke. Ich glaube, dass wir schwach sind, ja. Wir hoffen, dass die anderen noch schwächer sind. Wenn die EU sich konsolidiert, wird es leider nicht aus Stärke heraus sein, es wird nicht passieren, weil man sich gemeinsam zu Werten bekennt, sondern weil man sich der eigenen Schwäche gewahr ist. Wenn wir Glück haben, können wir in zehn Jahren auf die Covid-19-Pandemie zurückblicken und sagen: „Diese Krise hat die EU erneuert, mehr als alle anderen Krisen zuvor.“ Es kann aber auch schiefgehen. Und wenn es schiefgeht, dann nimmt es einen ganz bestimmten Verlauf: Dann verliert Deutschland sein Vertrauen in die EU, dann sind wir in einem anderen Spiel. Ich habe etwas aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Auseinanderfall Jugoslawiens gelernt: Große, komplexe politische Projekte zerfallen, wenn das Zentrum implodiert. Wenn Bulgarien oder Großbritannien sich dazu entscheiden wegzulaufen, dann hält die EU das aus. Bei Bulgarien würde es niemandem auffallen, der Brexit war eine Tragödie, aber die EU blieb bestehen. Wenn Deutschland beschließt, dass die EU so dysfunktional ist, dass sie nichts mehr nützt, schaut es anders aus.

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