

Die Bausteine für eine mögliche Revolution
Andreas Kremla in FALTER 12/2023 vom 22.03.2023 (S. 35)
Antoni van Leeuwenhoek entdeckte Ende des 17. Jahrhunderts Zellen als Bausteine aller Organismen. Das Mikroskop dafür hatte er gebastelt, um die Qualität von Stoffen zu prüfen; denn er war kein Wissenschaftler, sondern Tuchhändler.
1906 erhielten Santiago Ramón y Cajal und Camillo Golgi gemeinsam den Nobelpreis für die Aufklärung der Struktur des Nervensystems, obwohl ihre Erklärungsmodelle komplett konträr waren. Erst später konnte Cajals Ansatz bewiesen werden.
Die kleine Emily wäre gestorben, hätte ihr Arzt nicht die verwegene Idee gehabt, ihr statt ihrer Leukämietherapie jene Entzündungshemmer zu geben, die seine eigene Tochter zufällig gerade nehmen musste.
Ganz unterschiedlich klingen die Geschichten, die Siddhartha Mukherjee hier erzählt. Doch zwei Dinge haben sie gemeinsam: Der Autor interpretiert sie auf einer beachtlichen Bandbreite von zutiefst empathisch bis höchst wissenschaftlich; und sie kreisen alle um die menschliche Zelle. Der indisch-US-amerikanische Biologe und Arzt arbeitet als Krebsforscher und erfolgreicher Wissenschaftsvermittler. Sein Buch über den Krebs – „Der König aller Krankheiten“ – bescherte ihm 2011 den Pulitzer-Preis.
Im aktuellen Werk schöpft er aus vielen Quellen: Fallbeispiele von Patient:innen, Interviews mit Fachleuten, historische Anekdoten und Experimente verwebt er mit aktuellen Studien und persönlichen Erlebnissen zu einer großen Komposition mit klarem Aufbau. In sechs Abschnitten stellt er verschiedene Aspekte der Zelle vor, vom Anfang der Forschung bis zu gegenwärtigen medizinischen Anwendungen – und mit Ausblicken, wie wir uns mit dem Wissen über unsere Bausteine sozusagen neu zusammensetzen könnten, um gesund zu bleiben.
Ein Abschnitt ist der Corona-Pandemie gewidmet, die wütete, während Mukherjee das Buch schrieb. Er würdigt die Triumphe der Messenger-RNA-Technologie, gesteht aber ein: „Die Pandemie hat der Immunologie einen neuen Schub verliehen, aber auch klaffende Lücken in unseren Kenntnissen offengelegt. Sie hat uns ein notwendiges Maß an Demut gelehrt.“
Sprachlich bleibt Mukherjee bei all dem vermittelten Fachwissen stets einfach und klar. Die Balance zwischen stringenter Schritt-für-Schritt-Erklärung und anekdotischer Abschweifung beherrscht er virtuos. Nur manchmal kann die Fülle des Materials etwas müde machen. Was der Autor so poetisch als „Lied der Zelle“ betitelt, ist ein Orchesterwerk für viele Stimmen, die sich auf fesselnde Weise ineinander ranken und ein großes Thema erhellen.