

Sinn suchen macht gesund
Andreas Kremla in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 42)
Aus 26 Sinnquellen schöpft der Mensch. Am Gemeinwohl orientierte Konzepte wie soziales Engagement, Naturverbundenheit oder Moral zählen ebenso dazu wie die eher selbstbezogenen Disziplinen Individualismus, Macht oder Freiheit. Aus der Metaphysik-Abteilung kommen Religiosität und Spiritualität dazu.
Zur Erkenntnis dieser mentalen Kraftquellen ist Tatjana Schnell im Laufe der letzten 20 Jahre durch umfangreiche Untersuchungen gelangt. Die Psychologieprofessorin, die auch Religionswissenschaft und evangelische Theologie studiert hat, lehrt und forscht an der Universität Innsbruck und an der MF Norwegian School of Theology, Religion and Society. Als Sachbuchautorin ist sie bereits mit „Psychologie des Lebenssinns“ (Springer 2020) in Erscheinung getreten.
Um aus ihrer Forschung eine Fundgrube für alle zu machen, hat sie sich mit dem Zeit-Redakteur Kilian Trotier zusammengetan. Er hat das Projekt „ZEIT Sinn – Wofür leben wir?“ mitbegründet und leitet seit kurzem das ZEITmagazin online.
Vom ursprünglichen Wortsinn ausgehend – „eine Richtung nehmen, eine Fährte suchen“ – betrachten die Autor:innen die Wege der Menschen zu ihrem persönlichen „Wofür?“. Diese beschreiben sie mithilfe altbewährter psychologischer Modelle etwa zur Selbstwirksamkeit oder zur Entwicklung unserer Lebensaufgaben; und anhand zahlreicher Fallbeispiele.
An Menschen, denen es besser ging, sobald sie ihren Sinn gefunden hatten, lernen wir unter anderem kennen: Maximilian, der nach dem Tod seiner Frau ein Jahr lang mit seinem Sohn im Campingwagen durch Frankreich tourte; Sebil Kekilli, die aus der Enge ihrer fürsorglichen Familie ausbrach, um als Schauspielerin zu reüssieren; Rufus, der einen radikalen Neustart wagte, nachdem sich sein Traumjob als Albtraum erwiesen hatte.
Hohen Stellenwert räumen die Autor:innen dem Sinn auch in Sachen Gesundheit ein. Zahlreiche Studien würden belegen, dass die Suche nach dem Sinn gesünder sei als die Suche nach dem Glück, die in eine „hedonische Tretmühle“ führen könne.
Eine kurze Kulturgeschichte des Sinn-Begriffs reicht von Aristoteles bis Camus. Lao-tse kommt darin nicht vor. „Der Sinn, der sich aussprechen lässt, ist nicht der ewige Sinn“, hatte der alte Meister vor ca. 2700 Jahren im „Tao-Te-King“, dem wohl ersten Buch über den Sinn, geschrieben. Trotier und Schnell hingegen benennen den Sinn sehr klar – manchmal so klar, dass die Wissensvermittlung zur direktiven Richtungsvermittlung zu werden droht. „In 4 Schritten zu einem sinnerfüllten Leben“ verspricht die Website sinnmacher.eu, die die Autorin betreibt.
Zunächst sieht das nach einer sinnvollen Trennung aus: dort Ratgeber-Website; hier leicht zu lesendes Sachbuch, beides auf Basis fundierter Forschungsergebnisse. Doch immer wieder steht hier geschrieben, was man tun müsse, um den eigenen Sinn zu finden. Im letzten Kapitel mutieren die Autor:innen endgültig von neutralen Berichterstattern aus der Welt der Sinnforschung zu Ratgebern, die den richtigen Weg weisen. Als konkrete Schritte empfehlen sie „Gemeinsam losziehen“, „Eins nach dem anderen“ oder die Nutzung der eben entdeckten 26 Sinnquellen. Zumindest ist die Mission, die sie dabei vermitteln, keine alleinig anzustrebende Heilslehre, sondern nur die Methodik zur eigenen Wegfindung.
„Generativität“ führt die Hitparade der Sinnquellen an: „Das meint die Lebenshaltung, etwas von bleibendem Wert tun oder schaffen zu wollen.“ Hierin liegt wohl auch der Sinn eines Sachbuchs: Wissen weiterzugeben, das die Welt ein Stück bereichert. Allzu viel wurde zum Sinn noch nicht geforscht; selten wurde so systematisch und leicht lesbar darüber geschrieben. Insofern lässt sich dieses Buch eindeutig als sinnvoll sehen. Schnell und Trotier gelingt es, ein oft benanntes, selten begriffenes Thema handhabbar zu machen