

Dreimal kurz gekotzt
Birgit Wittstock in FALTER 8/2021 vom 24.02.2021 (S. 36)
Es ist, als ob du mitten im Winter draußen in der Kälte stehst, und plötzlich kommt jemand mit einer warmen Decke und hüllt dich ein.“ So beschreibt der Protagonist Axel das H-High. Es ist einer der besseren Momente der Neuverfilmung der Heroinsuchtsaga „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. In den weniger guten sehen die besagten Kinder selbst dann noch taufrisch aus, wenn ihr Alltag längst am Babystrich statt in der Schule stattfindet, und ist der Heroinentzug nach dreimaligem kurzem Kotzen überstanden. In den schlechten defiliert die Clique beim Begräbnis ihres Freundes in stylischen Outfits, als handle es sich nicht um die Geschichte über die hässliche Fratze der Sucht, sondern um eine Modestrecke in der Vogue.
Und so schnell ist das augenscheinlichste Problem des Amazon-Prime-Remakes, dessen acht Folgen seit vergangener Woche auf der Streamingplattform abrufbar sind, auch schon erzählt: Anstatt den Verfall zu zeigen, den das Buch aus dem Jahr 1978 beschreibt, verpackt die Serie die Geschichte in auffrisierte Bilder. Anders als die 40 Jahre alte Verfilmung von Uli Edel, die mit nur knapper zeitlicher Verzögerung an Originalschauplätzen im abgefuckten Berlin der 80er-Jahre spielt, schwebt die Serie in einem glitzernden, instagramtauglichen Paralleluniversum, losgelöst von Zeit, Raum und den historischen Ereignissen.
Es ist vor allem dieser laxe Umgang mit den Vorlagen, der die Serie schwer verdaulich macht – zumindest, wenn man zu jener Generation zählt, die mit Buch und Film aufgewachsen ist. Immerhin sind die Geschichte, die die beiden Stern-Reporter Kai Hermann und Horst Rieck 1978 aus Gesprächsprotokollen mit der damals noch minderjährigen Heroinsüchtigen Christiane F. schufen, und die drastischen Bilder in Uli Edels Inszenierung von 1981 seit zwei Generationen – zumindest in deutschsprachigen Ländern – Teil des kulturellen Gedächtnisses.
„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ war nach seinem Erscheinen zwei Jahre lang das meistverkaufte Buch in der damaligen BRD, es erschien in 18 Sprachen und wurde weltweit mehr als fünf Millionen Mal verkauft. In deutschen Schulen stand es lange auf dem Lehrplan – Christiane F., die sich den ersten Schuss mit 13 setzte und deren Leben sich in den folgenden Jahren um Anschaffen, Entzug und Rückfall drehte, galt als abschreckendes Beispiel von pädagogischem Wert. Ihr Name wurde zum Synonym für Sucht und Elend und sie selbst zu einer Ikone der deutschen Jugendkultur.
Nach ihrer Volljährigkeit trat sie mit ihrem Nachnamen Felscherinow an die Öffentlichkeit, war nach den Erfolgen von Buch und Film eine Zeitlang als Sängerin und Schauspielerin tätig. Mit ihrer Sucht kämpft die inzwischen 59-Jährige bis heute.
Was sie wohl von der Neuerzählung ihres Lebens hält? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Christiane Felscherinow hat sich, ein Jahr nachdem sie 2013 eine weitere Autobiografie veröffentlicht hatte, aus gesundheitlichen Gründen zurückgezogen.
Die Serienmacher – Regie führte Philipp Kadelbach („Unsere Mütter, unsere Väter“, „Parfum“), die leitende Autorin war Annette Hess („Ku’damm“) – haben sich jedenfalls viele Freiheiten bei der Interpretation des Stoffes herausgenommen: Sie machten Christiane F. zum Einzelkind, verpassten ihrem Freund Detlef den eingängigeren Namen Benno, verwandelten Christiane F.s Stammdisco, das Sound – das zu jener Zeit damit warb, Europas modernste Diskothek zu sein –, in einen Elektro-Tempel, auf dessen Tanzfläche die Crowd nicht durch Synthesizer-Beats krault, sondern im urbanen Ausdruckstanz flippt. Begleitet wird die Story von einem Soundtrack aus der jüngeren Gegenwart und die Kids sprechen ein Kauderwelsch aus 70er-Jahre-Szene-Jargon und aktuellem Jugendsprech. Doch das alles geht sich meist noch irgendwie aus.
Unter zwei Eingriffen leidet die Umsetzung hingegen schwer: dem Alter der Schauspielerinnen und Schauspieler – hier sollen Erwachsene junge Teenager verkörpern – und unter dem Kunstgriff der Serienmacher, die Realität da, wo es eng wird, mit surrealen Traumsequenzen zu verniedlichen. An wenigen Stellen hat diese Abstraktion einen Mehrwert. An den meisten ist sie eine Flucht. Immerhin gingen Buch und Film gerade aufgrund ihrer direkten Darstellung unter die Haut.
Warum also „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ überhaupt neu verfilmen? Warum nicht einfach einen neuen Plot über junge Drogensüchtige in der Gegenwart erfinden?
Die Geschichte würde heute anders aussehen, denn gerade das Heroin als drug of choice und die Verelendung der Kinder vom Bahnhof Zoo geben das wahre Alter der Vorlage preis. Nicht nur, dass die Zahl der Heroinsüchtigen in Europa im Vergleich zu damals, als es wie eine Bombe einschlug, seit Jahren niedrig ist; Jugendliche wie Christiane F. würden heute in Deutschland ebenso wie in Österreich Substitutionsmittel junken und müssten dazu keine Freier abfertigen. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ist ein Dokument aus einer Zeit, als es noch keine Drogenersatzmittel gab, die Suchtkranke vor der Verelendung bewahrten. Die Christiane F. von heute würde in die Apotheke gehen.