

Gestern und heute sind nicht zu trennen
Kirstin Breitenfellner in FALTER 12/2024 vom 20.03.2024 (S. 24)
Der Titel dieses vielschichtigen Jugendromans glänzt. Doch seine „goldenen Steine“ sind trügerisch. Als Kind hatte sich Yara vorgestellt, dass die quadratischen Einlassungen im Gehsteig vor ihrem Haus ein Schatz seien, und sogar versucht, sie auszugraben. Mittlerweile weiß sie, dass sie aus Messing bestehen, Stolpersteine heißen und an entsetzliche Ereignisse erinnern: die Deportation und Ermordung von ehemaligen Bewohnern des Hauses, darunter das Mädchen Ella, das zwei Jahre jünger war als Yara jetzt, als es alles verlor. Auch sein Leben, am 15. Mai 1942 in einem Ort namens Chelmno.
Die 13-jährige Yara steckt in einer schwierigen Lebensphase. Ihre Mutter, eine Archäologin, geht beruflich für ein Jahr nach Frankreich. Aber steckt dahinter auch eine Ehekrise? Yara ist sich nicht sicher, weil sie gleichzeitig mit ihrem Vater in eine kleinere Wohnung in einer ärmeren Gegend Hamburgs ziehen muss. Und damit wird sie nicht nur Ellas ehemaliges Haus, sondern auch ihre Nachbarin, die alte Frau Winter, die Ella noch kannte, nicht mehr sehen.
Doch mit dem Umzug bekommt Yaras Leben Drive. Sie lernt nämlich zwei Jungs kennen, den großmäuligen Leon und den zurückhaltenden Niko, Sohn von russischen Juden, der mit dieser Identität bislang wenig am Hut hatte. Jedenfalls nicht, bis er Leon und Yara kennenlernt.
Am Anfang der Handlung steht ein unbedachter Bubenstreich: Leon reißt auf einem Schulausflug nach Frankfurt an dessen unübersichtlichem Hauptbahnhof einem Mann ein Käppi vom Kopf und setzt es sich auf, ohne zu wissen, was es bedeutet. Zurück in Hamburg wird er von zwei Kahlrasierten als Jude beschimpft und zusammengeschlagen.
Auf den ersten Blick scheint dieser Plot ein wenig konstruiert, aber diesen Anfangsverdacht vergisst man im Lauf der Geschichte vollständig. Cornelia Franz gelingt es nämlich, damit eine Handlung anzustoßen, der nichts Künstliches mehr anhaftet, weil sie an jeder Stelle psychologisch gut motiviert wird, mühelos die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft und daneben auch die ganz normalen Probleme heutiger Jugendlicher mitzuerzählen vermag.
Niko muss sich von einer erdrückenden Mutterbeziehung frei machen und dabei mit Beschimpfungen wie „Scheißrusse“ leben, Letzteres eine Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine. Und Leon leidet darunter, dass seine wohlhabenden Eltern kaum Zeit für ihn haben.
Auch in ihrem letzten Jugendroman „Swing high. Tanzen gegen den Sturm“ (2022) über jugendliche Jazzfans während der Nazizeit gab Franz’ Heimatstadt Hamburg die Kulisse einer bewegenden Geschichte ab, die ein Stück deutscher Geschichte beleuchtete. „Goldene Steine“ spielt in einer Gegenwart, die von genau dieser Vergangenheit immer noch und immer wieder eingeholt wird.
So finden die drei Freunde etwa heraus, dass das „Familienunternehmen“ von Leons Eltern früher Stern Moden hieß. Auch hier gibt ein „goldener Stein“ den Anstoß. „In Yara wirbelten die Gedanken. Gestern erst hatte sie mitbekommen, dass die Stolpersteine gesehen wurden. Und jetzt hörte sie, dass ihr bester Freund durch einen Stein über etwas aus der Vergangenheit gestolpert war.“
Mühelos hält die Autorin ihre zahlreichen Fäden in der Hand. Die Suche von Yara, Niko und Leon nach den beiden Neonazis, die Leon verprügelt haben, gerät zum Krimi. Zum Schluss büxen die drei heimlich nach Frankfurt aus, um das Käppi zurückzugeben. Trotz Konflikten festigt sich dabei auch ihre Freundschaft, und die Heranwachsenden machen einen Reifeprozess durch. Bei ihrer Rückkehr erkennt die alte Frau Winter, die im Sterben liegt, dass beide Jungs in Yara verliebt sind. Aber die Autorin überlässt es der Fantasie der Leserinnen und Leser, welchen Yara wählen wird.