

Die etwas andere Strömungslehre
Susanne Schaber in FALTER 41/2017 vom 13.10.2017 (S. 16)
Zu Wasser und zu Lande folgt der BBC-Korrespondent Nick Thorpe der Donau von der Mündung bis zu deren Ursprung
Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit, und schon ist es passiert: Ein Autofahrer biegt nach rechts ab, übersieht den Radfahrer und rammt diesen mit solcher Wucht, dass es ihn über die Kühlerhaube in die Luft und auf den Asphalt schleudert. Die Diagnose in der Notaufnahme eines Budapester Spitals: Ein gebrochener Wirbel, mit Schmerzen und einer monatelangen Rekonvaleszenz ist zu rechnen.
Eine Horrornachricht für einen wie Nick Thorpe, den der Unfall auf großer Fahrt erwischt. „Die Donau. Eine Reise gegen den Strom“ schickt den britischen Journalisten und Filmemacher oft genug ins Abenteuer. Knapp 3000 Kilometer einem Fluss zu folgen, der Europa geprägt hat wie kein zweiter, ist allemal eine Herausforderung. Gerade auch, wenn man sich im Schatten berühmter Vorgänger wie Patrick Leigh Fermor oder Claudio Magris bewegt.
Thorpe aber zeigt sich unbeeindruckt und gibt sich unerschrocken. Die Prähistoriker liefern ihm die Begründung für seine ziemlich unorthodoxe Route stromaufwärts von der Mündung zur Quelle: Europa sei vom Osten her besiedelt worden und die Donau eine der wichtigsten Passagen in den Westen gewesen. Hier zogen Eroberer, Abenteurer, Händler und Flüchtlinge entlang, um sich neues Terrain zu erschließen und damit auch eine bessere Existenz. „Was war in ihren Gedanken, ihren Tornistern? Und was ließen sie zurück?“ Fragen wie diese werden zur Brücke ins Heute, da weitere Migrationswellen auf Europa zurollen. Nick Thorpe kultiviert den fremden Blick und wechselt die Perspektive, wenn er sich dem Kontinent vom östlichen Rand her nähert.
Wo sich andere aus dem sogenannten Herzen der Zivilisation zum Schwarzen Meer hin bewegten, häufig mit einem Ballast von Vorurteilen mit im Gepäck, ist er mit kleinem Rucksack unterwegs, zu Fuß, auf dem Rad, im Auto oder auf dem Boot. Er bleibt nahe bei den Menschen, bei Fischern, Weinbauern und Fabrikarbeitern, bei Imamen, Studentinnen und Umweltaktivisten. Er sitzt am Donauufer oder in Bars, trinkt selbstgebrannten Zwetschkenschnaps, ermittelt, verhandelt und diskutiert.
Es geht um den Alltag am Fluss – und um den Alltag eines Korrespondenten, der gut 30 Jahre in Budapest verbracht hat und seit 1996 für die BBC aus Mitteleuropa berichtet. Entsprechend eng sind dessen Kontakte zu den Bewohnern der Donaustaaten, die er journalistisch seit langem begleitet. Den Herbst/Winter 1989, das Ende des Kommunismus und die Entwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft hat Thorpe in Ungarn miterlebt und die Nachbarländer auf Privat- und Pressereisen erkundet. Er kennt die Industrieruinen der Ceauşescu-Ära, hat den Bürgerkrieg in Jugoslawien beobachtet und die Bombardierung der Brücken von Novi-Sad, er weiß um die Umweltsünden, die das Vogel- und Fischsterben begünstigt haben, und um die brutalen Donauregulierungen.
Dort, wo sich das von Brigitte Hilzensauer wendig übersetzte Buch ins Erzählerische hineinwagt, wirkt es forciert und atmosphärisch flau; wo es sich dem Genre der Reportage überlässt, gewinnt es an Witz und Tempo.
Claudio Magris’ episch breit angelegtes Buch, das vollends in die Kultur- und Geistesgeschichte abtaucht, ist 1986 erschienen. Thorpe schreibt es ins Heute weiter, geradliniger und mit viel Bodenhaftung und zugleich mit einer überbordenden Flut an Fakten über Völker, Schlachten und Herrscher, ergänzt von unzähligen Legenden, Anekdoten und Details über das Leben mit und neben dem Fluss.
Nach seinem Sturz vom Rad dauert es Monate, bis Nick Thorpe seine Fahrt fortsetzen kann. Die Strecke zwischen Budapest und der Quelle bringt er recht ungeduldig und schnell hinter sich. „Die Donau bietet Trost und predigt Toleranz“, lautet eine seiner Einsichten angesichts des Rinnsals, das bei Donaueschingen den Beginn eines immer mächtiger werdenden Stroms markiert: Ende des Wegs, Anfang der Reise.