

Das Chlorhuhn ist das falsche Wappentier
Christian Felber in FALTER 38/2014 vom 19.09.2014 (S. 14)
Das geplante Freihandelsabkommen TTIP birgt nicht nur Umweltgefahren, es bedroht die Demokratie
Das legendäre Chlorhuhn hat in Bezug auf das TTIP einen solchen Grad an Berühmtheit erlangt, dass es sich als Wappentier oder als Maskottchen des transatlantischen Vertrags eignen würde. Und obwohl die Leitmedien voll der Beschwichtigungsrhetorik sind - die Gefahren des TTIP seien "übertrieben", es handle sich um "Angstmache" -, ist das Beispiel korrekt. Beiderseits des Atlantiks bemühen sich wohlbestallte Lobbys um die "Harmonisierung von Standards".
Und zwar sollen nicht die niedrigeren Standards an die jeweils höheren angepasst, sondern Letztere kurzerhand abgeschafft werden. Spätestens seit der ehemalige US-Botschafter in der EU, Stuart Eizenstat, gegenüber der Öffentlichkeit die Ansicht vertrat, dass Lebensmittel, die in den USA zugelassen sind, "auch für europäische Familien gut" seien, wie eben beispielsweise in Chlor getunkte Schlachthühner, ist für alle offensichtlich, wie diese Lobbys agieren.
Ein besseres Beispiel wäre dennoch der Futtermittelzusatz Ractopamin, der in immerhin 160 Staaten der Welt verboten ist. Davon unbeeindruckt hat der US-Schweinezüchterrat festgehalten, er werde "kein TTIP-Verhandlungsergebnis ohne die Aufhebung des Verbots von Ractopamin in der EU akzeptieren". Solche Beispiele gibt es haufenweise. Dennoch, und das ist die größte Gefahr des Maskottchens, lenken sie von den ungleich größeren Umwelt- und Demokratiegefahren ab, die mit TTIP dräuen.
So planen die Verhandler unter der Überschrift "Regulatorische Kooperation", dass alle zukünftigen und bestehenden Regulierungen gegengeprüft und im Idealfall so erlassen werden, dass sie den Handel nicht beeinträchtigen. Ein neu zu schaffender "Transatlantischer Rat für Regulierungskooperation" namens RCC soll für die Angleichung aller Richtlinien, Verordnungen, Gesetze und Normen sorgen.
Die jeweilige Gegenseite erhält ein Recht zur Stellungnahme und Beeinspruchung aller neuen Gesetzesvorhaben. Werden diese nicht umgesetzt, muss dies gerechtfertigt werden. Mit diesem Monster droht nicht nur eine Verwässerung zahlloser Umwelt-, Sicherheits-, Arbeitsschutz-, Konsum- und Transparenzstandards, sondern auch die Umgehung von Parlamenten und Souveränen.
Des Weiteren ist eine wichtige Errungenschaft in der EU-Umweltpolitik, das Vorsorgeprinzip, durch die Verfolgung des WTO-Ansatzes im TTIP in Gefahr. Die USA wollen durchsetzen, dass Produktions- oder Handelsverbote erst dann erlassen werden dürfen, wenn ein "wissenschaftlicher Beweis" für die Gefahr eines Produkts oder einer Technologie vorliegt.
Doch diese kann oft erst Jahrzehnte nach dem Auftreten erster Gesundheitsschäden erbracht werden -bei Asbest dauerte es 100 Jahre. Die Regulierungssouveränität bei Gentechnik, Atomenergie oder Chemikalien würde unterhöhlt. Ein Beispiel: In den USA sind elf Kosmetikazusätze verboten, in der EU mehr als 1300.
Dritte TTIP-Umwelt-Gefahr: Beim Rohstoffexport sollen sämtliche Beschränkungen fallen, was das Regionalitätsprinzip brechen und Schutzgebiete gefährden würde. Die umstrittene Schiefergaserschließung, auch "Fracking" genannt, könnte mit dem TTIP, ähnlich wie schon die Gentechnik in der WTO, eingeklagt werden.
Im öffentlichen Einkauf soll die Bevorzugung von lokalen, nachhaltigen oder KMU "verboten" werden. Denn das wäre ja eine "Diskriminierung" ausländischer Großkonzerne. In der Landwirtschaft würde die Absenkung von Standards zu einer weiteren Intensivierung führen. Der durchschnittliche US-Agrarbetrieb umfasst 170 Hektar, jener in der EU 12,5 Hektar. Die EU-Kommission hofft, ihre Betriebe würden durch TTIP "effizienter".
Einer der umwelt-wie demokratiepolitisch heikelsten Punkte ist das direkte Klagerecht ausländischer Konzerne gegen Gastgeberstaaten und deren Gerichtsbeschlüsse. Über ein dichtes Geflecht zwischenstaatlicher "Investitionsschutzabkommen" können Konzerne auf "indirekte Enteignung" und "unfaire Behandlung" klagen, also gegen praktisch alles, was ihnen nicht schmeckt.
Neben Verbraucherschutz-, Antidiskriminierungs-, Arbeitsschutz- und sozialen Sicherheitsfragen sind es immer wieder auch Umweltgesetze, die in den letzten Jahren mithilfe von Klagen ausgehebelt wurden oder wenigstens zu Schadenersatzzahlungen für die "betroffenen" Konzerne führten. Im NAFTA hat ein US-Konzern beides erhalten: die Rücknahme des kanadischen Gesetzes, das einen Schwermetallzusatz im Benzin untersagte, und obendrein einen zweistelligen Millionenbetrag an Schmerzensgeld.
Aktuelle Klagen bewegen sich in Milliardenhöhe und entfalten einen entsprechenden Abschreckungseffekt auf Parlamente und Regulierungsbehörden.
All diese TTIP-Umwelt-Dimensionen zeigen: Das Chlorhühnchen ist kein Wahngebilde, aber es lenkt sehr effektiv von einer Reihe wesentlich größerer Umwelt- und Demokratiegefahren des TTIP ab. Das TTIP-Maskottchen sollte deshalb RCC statt des Chlorhuhns werden, das würde dem Inhalt des Abkommens besser gerecht.
P.S.: Mögliche positive Umwelteffekte des TTIP sind bisher keine bekannt.