

Das Jesulein als frisch geworfenes, rosiges Ferkel
Thomas Leitner in FALTER 16/2022 vom 22.04.2022 (S. 31)
Für die Tanten war es immer ein Rätsel, warum Großonkel Eugen, der Zwillingsbruder von Großvater Heinrich, zehn Jahre nach seiner Auswanderung in die USA zurückkehrte, wo er doch "drüben" reich geworden war. Auch über den Urgroßvater Alois wurde geredet: Er hatte lange bei der k.u.k. Marine gedient, bevor er die väterliche Mühle übernahm und eine Frau aus dem Dorf heiratete. Das sind die Eckpunkte aus der eigenen Mühlviertler Familiengeschichte, die Judith W. Taschler für ihren neuen Roman herangezogen hat; die Leerstellen und Jahre dazwischen füllt, neben viel Recherche, die Fantasie.
Es beginnt 1828: Rosa geht heimlich als Dienstmädchen nach Wien. 20 Jahre später kommt sie wieder, um dem verwitweten Bruder die Wirtschaft zu führen - kein Wort darüber, was in all der Zeit passiert ist. Ihr Neffe Albert heiratet spät eine wesentlich jüngere Wienerin, die einiges zu verbergen hat.
Die Last der Geheimnisse und die fatalen Folgen der Dinge, über die nicht gesprochen wird, setzen sich bis zu Rosas Großneffen Carl und den Gewissensbissen eines Deserteurs im Ersten Weltkrieg fort. Dazwischen: dörfliche Feindschaften um Grundbesitz; die Ernüchterung des Alltags, die einer herbeigesehnten Eheschließung folgen kann; was es bedeutet, aus Liebe einen besitzlosen Mann zu heiraten oder vor der Zeit ein Kind zu bekommen. Wenn die Autorin den Ton eines chronikalischen Berichts verlässt, ist Platz für eigenwillige Überlegungen und Humor: Der skeptische Betrachter eines in Kreuzstichtechnik ausgeführten Jesuleins sieht hier bloß ein rosiges, frisch geworfenes Ferkel.
Judith W. Taschler hinterfragt Familie, Identität und Schicksal, ohne vereinfachende Erklärungen zu geben. Durch leichtes zeitliches Verschieben beim Übergang der Geschichte zum nächsten Protagonisten ergibt sich ein neuer Ton, eine andere Perspektive. Das abrupte Ende vor der herausfordernden Zeit nach 1922 deutet auf eine Fortsetzung hin.