

„Wenn was ist, dann wird misshandelt“
Stefanie Panzenböck in FALTER 12/2023 vom 24.03.2023 (S. 19)
Der erste Satz gibt den Takt vor: „Wenn du in der öffentlichen Toilette den Korken der Weinflasche mit dem Schlüssel eindrückst und ihn ableckst, damit kein Tropfen verloren geht, brauchst du dich vor nichts mehr fürchten.“ Die belarussische Schriftstellerin Eva Viežnaviec schreibt, als würde sie Pflöcke in die Erde schlagen. Präzise und mit voller Kraft. Die Sätze sind unverrückbar, lassen weder Abschwächung noch Missverständnis zu. In „Was suchst du, Wolf?“ jagt die Autorin die Leserinnen und Leser durch die belarussische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig eröffnet sie dem Publikum eine mythenverhangene Welt aus Hexereien und Heilungen.
Ryna, über 40, kehrt in ihr Heimatdorf Nauhalnaje zurück, das in einer mittlerweile trockengelegten Sumpflandschaft im Südwesten von Belarus liegt. Ihren Job als Altenpflegerin in Deutschland hat sie wegen des Trinkens verloren. Dann starb ihre Großmutter, die Heilerin Darafeja, bei der sie aufgewachsen war.
Der Sumpf ist gleichsam der stille Protagonist des Romans: Seine Weite, seine Gefahren, die Geschichten und die Toten, die er birgt, sind allgegenwärtig. Doch das Böse lauert anderswo: „Unsere Sümpfe waren zwar furchteinflößend, doch sie haben nie so viele Menschen geholt wie die Menschen selbst“, sagt die Großmutter.
Viežnaviec lässt in „Was suchst du, Wolf?“ die Frauen zu Wort kommen: die Großmutter Darafeja, in deren Erzählung wiederum deren eigene Großmutter Marjanka eine wichtige Rolle spielt, und Darafejas Enkelin Ryna.
Da Marjanka und Darafeja übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben wurden, blieben sie von der Brutalität der Männer weitgehend verschont. Man fürchtete ihre Kräfte und war auf sie als Heilerinnen angewiesen.
Darafeja erzählt ihrer Enkelin von den wechselnden Machthabern nach dem Ersten Weltkrieg, etwa den Deutschen, den Polen, den Russen und ihrem Vater, dem grausamen Sauka Bahalewitsch. Der Antisemitismus einte sie alle. „Lesjar aus Asnitschki wird sagen: ‚Sieben Mächte, dicht an dicht, die Knochen der Juden zählst du nicht‘.“ Darafeja und ihre Großmutter versteckten eine Jüdin und deren Sohn im Keller.
„Glücklich waren die, die einfach eine Kugel in die Stirn bekamen! So ist das hier bei uns in Lipjen Mode – wenn was ist, dann wird misshandelt: Arme und Beine ausrenken, dass es knirscht, Augen ausstechen, Haut streifenweise abziehen und Salz darüberstreuen.“
Dann kamen die Sowjets, danach die Nationalsozialisten. Ihre Widersacher gingen als Partisanen in die Wälder. „Sie holten alle Ochsen, Kühe und Pferde – was die Deutschen nicht nahmen, nahmen die Partisanen“, erzählte die Großmutter. „Als Mann konnte man nur im Wald überleben. Wir, die Frauen, Alten und Kinder, waren für alle Futtervieh.“ Überall grassierten Geschlechtskrankheiten, Frauen suchten Marjanka und Darafeja auf und baten um einen Abtreibungstrank.
Eva Viežnaviec erzählt mit „Was suchst du, Wolf?“ nicht nur die Geschichte ihrer Heimat, die hierzulande weitgehend unbekannt ist, sondern auch eine universelle Geschichte der Gewalt und Unterdrückung. Jedoch nicht der Hoffnungslosigkeit. Ein Roman der Stunde.