

Es war einmal in Jugoslawien
Alfred Pfoser in FALTER 42/2023 vom 20.10.2023 (S. 13)
Was tut sich denn da? Danijel beobachtet vom Fenster aus, wie eine junge Frau, bepackt mit zwei Koffern und begleitet vom Beamten des Wohnungsamtes, in die Erdgeschoßwohnung der Wohnanlage einzieht. Wo kommt sie her, was will sie da in Maribor, so ganz allein? Da stellen sich Fantasien ein, sprießen die Begierden des 13-Jährigen, der die Zugezogene ins Visier nimmt, genau registriert, was „seine Lena“ so treibt und wie sie die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zieht. Er kann es kaum glauben, dass sich der ungelenke, gutmütige Dachdenker Pepi, der sich mit Gefälligkeiten andient, Zugang zu der seltsamen Einzelgängerin verschafft und ihr Liebhaber wird.
Der Erzähler, der seinen Danijel zeitnah, aber dann doch wieder aus späterer Sicht begleitet, lässt von Anfang an anklingen, dass die Geschichte, die sich da anbahnt, nicht gut ausgehen wird. Und dann, etwa in der Mitte des Buches, ist es auch so weit: Ein zwielichtiger Hallodri braust mit Motorrad durch die Gegend, macht der hübschen Lena den Hof und sticht den Pepi bei dieser aus.
Rund um diese ironisch gebrochene Tragödie, die gewollt schablonenhaft ihren Lauf nimmt, baut Drago Jančars neuester Roman „Als die Welt entstand“ die ziemlich merkwürdige, so widersprüchliche jugoslawische Welt der 1960er-Jahre wieder auf. Was Danijel alles erlebt, wird mit viel Witz und Sarkasmus serviert. Ein Märchenton ist, zart eingewebt, auch im Spiel, die vielen Geschichten sind wunderbar in der Schwebe gehalten, gründen ebenso auf Erinnerungen wie auf Fantasie. Darum ist der Roman „im Traum und in der Wirklichkeit zu Haus, beides zugleich“, wie der Erzähler gleich zu Beginn klar macht.
Am Ende hebt sich Danijel aus den Niederungen des Treibens in einen melancholischen Fiebertraum empor, geplagt vom lästigen Gedanken, dass all das, was er erlebt, einst nicht mehr sein wird. Stecken Drago Jančars Erinnerungen an das eigene Heranwachsen in diesem Roman?
Die Worte und Gedanken, die er seinem Protagonisten in den Kopf legt, scheinen jedenfalls oft genug demjenigen des literarisch, biblisch und geografisch versierten Autors selbst entsprungen zu sein. „Ach, die Kindheit!“, so resümiert der Erzähler. „Das Entsetzliche sehen, um das Schöne zu erkennen. Die Angst, um dem Mut zu begegnen. Die Not der Welt, um an ihr reich zu werden.“
Drago Jančar, 1948 in Maribor geboren, gilt als der bedeutendste slowenische Schriftsteller der Gegenwart. Zu den zahlreichen Auszeichnungen, die ihm zuteil wurden, zählt auch der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur In seinem umfangreichen Œuvre hat er sich immer wieder auf die Spuren der so unheilvollen, widersprüchlichen Geschichte des Landes begeben, was ihn auch in Konflikt mit der Staatsmacht gebracht hat.
1974 wurde Jančar wegen „feindlicher Propaganda“ inhaftiert. Im Roman „Die Nacht, als ich sie sah“ (auf Deutsch 2015) ging er etwa dem Verschwinden einer Frau nach, die gemeinsam mit ihrem Mann von Tito-Partisanen verschleppt wurde. „Wenn die Liebe ruht“ (2019) ruft eine bittertraurige Liebesgeschichte ab: Der Krieg stellt Sonjas Beziehung auf den Prüfstand und lässt sie scheitern.
Auch in „Als die Welt entstand“ ist viel, viel Historie enthalten, die ein zerrissenes Land zeigt. Die Nachwirkungen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges sind allgegenwärtig. Der Autor erinnert an Hitlers berüchtigten Auftritt in Maribor im April 1941 und das bei dieser Gelegenheit gegebene Versprechen, Stadt und Land „deutsch zu machen“. Bei Danijel löst es Verwunderung und Irritation aus, was Anfang der 1960er-Jahre quasi noch so nebenbei passiert. Dessen universeller Ratgeber, der pensionierte Geschichtslehrer Fabjan, verschwindet plötzlich. Warum wurde er abgeholt? Weil er in der Nazizeit am Gymnasium unterrichtet hat? Franci, der zur deutschen Wehrmacht eingezogen wurde, dort als Panzerfahrer diente und im Krieg sein Bein verlor, zieht nach den persönlichen Angriffen und Hänseleien, die er erfährt, plötzlich nach Deutschland.
Am unmittelbarsten manifestiert sich die gespaltene politische Physiognomie des Landes wohl in den unterschiedlichen und ziemlich erbärmlichen Lebensweisen und Auffassungen der Eltern. Da ist Danijels Vater, der das Konzentrationslager überlebt hat, an den Folgen eines Schlaganfalles laboriert und sich im Rahmen von Partisanentreffen auf Erinnerungstour begibt. Da werden die alten Heldentaten wieder und wieder erzählt (und variiert), da werden, mit viel Alkohol unterlegt, die alten Lieder von den „furchtlosen Slowenen, die in den Kampf marschieren“ gesungen.
Mutter und Sohn überkommen Schauder der Angst, wenn sich dieser Tross der alten Haudegen zum Ausklang gelegentlich in deren Wohnung begibt und Danijel aus dem Bett gerissen und gezwungen wird, Vaters Kameraden mit seiner Harmonika aufzuspielen.
Die Mutter hingegen hält es mit dem Katholizismus, versucht den Sohn auf Linie zu bringen und in dessen Leben mit regelmäßigem Messbesuch und Sündenbekenntnis im Beichtstuhl seelische Ordnung zu stiften. Der gestrenge, wissbegierige Kapuzinerpater Aloisius tritt als Sittenwächter auf, reichlich klischeehaft, aber das wird wohl vom Autor intendiert sein, um den literarischen Schabernack am Köcheln und das Lesen vergnüglich zu halten.
Jančar hat viele Träume, viele Leben, viele Geschichten in seinem Köcher, die er erzählen und erklären muss. Wer den slowenischen Autor bisher nicht gelesen hat, wird mit „Als die Welt entstand“ jedenfalls einen der großen europäischen Erzähler kennenlernen.