

"Mich erschreckt nicht Putin, sondern Scholz"
Stefanie Panzenböck in FALTER 6/2024 vom 07.02.2024 (S. 25)
Paul Lendvai ist gut gelaunt. Der 95-jährige Autor und Moderator der ORF-Sendung "Europastudio" sitzt in seinem Wohnzimmer vor einer großen Bücherwand und scherzt mit dem Fotografen. Neben sich hat er sein neuestes Werk gelegt. Der schmale Band "Über die Heuchelei" ist eben im Zsolnay-Verlag erschienen.
Ausgehend von persönlichen Begegnungen mit Protagonisten der europäischen Politik arbeitet Lendvai das Heuchlerische an gesellschaftlichen Entwicklungen heraus. Der Jugoslawien-Krieg und Ungarn sind unter anderem Thema. Ein besonderes Anliegen ist Lendvai die verlogene Russlandpolitik des Westens oder auch die Irreführung Österreichs durch Altkanzler Sebastian Kurz und seine Vertrauten.
Mit dem Falter sprach der ewig Neugierige und Ruhelose, der bereits mehr als 20 Bücher geschrieben hat, über eine Volksfront gegen den "Volkskanzler" Herbert Kickl, die schwache Europäische Union und darüber, warum er selbst nicht betrogen werden will.
Falter: Herr Professor Lendvai, Sie haben Ihrem neuen Buch ein Motto vorangestellt: "Die Welt will betrogen sein, also werde sie betrogen." Warum ist das so?
Paul Lendvai: Die Welt bedeutet in diesem Fall die Menschen. Sie möchten betrogen sein, auch im Guten. Dass es besser wird, dass es nicht so schlimm sein wird. Das ist der tiefere Sinn dieses oft zitierten Satzes, dessen Ursprung man nicht genau kennt.
Wollen Sie auch betrogen werden?
Lendvai: Ich wurde in meinem Leben schon so oft betrogen. Von der Politik, von Menschen, sodass ich das im fortgeschrittenen Alter nicht mehr möchte. Man erinnert sich an Enttäuschungen auch eher als an die schönen Momente. Mit 15, im Jahr 1944, wurde ich in Ungarn von den Nazis Richtung österreichische Grenze verschleppt. Wenn ich heute müde bin, dann denke ich daran, wie ich damals im Stehen eingeschlafen und fast gestürzt bin. Als 18-Jähriger und Mitglied der Sozialdemokratischen Partei hielt ich Vorträge und dachte, dass meine Ideen etwas zum Besseren wenden könnten. 1953, da war ich Journalist bei einer kommunistischen Zeitung, wurde ich verhaftet, weil man mich verdächtigte, Trotzkist zu sein. Ich verschwand für acht Monate im Gefängnis und hatte anschließend drei Jahre Berufsverbot. Mein Vater, der Anwalt war, konnte nichts über mich herausfinden. Das Erste, was ich nach meiner Entlassung erfuhr, war, dass mich meine Frau betrogen hatte. In jener Zeit bedeutete Gefängnis, dass man abgeschrieben war, für mindestens fünf oder zehn Jahre. Ich war ein Niemand, kämpfte um meine Rehabilitierung. 1957 kam ich nach Österreich. Und das ist Teil der Magie meiner Liebe zu diesem Land: Ich habe hier nur schöne Erfahrungen gemacht. Obwohl es im Rückblick verrückt war. Als Journalist ist man in einer anderen Sprache eigentlich chancenlos.
Wenn man Ihr Buch liest, hat man den Eindruck, dass Sie politische Missstände immer noch wütend machen.
Lendvai: Gerade weil ich so alt bin und so viel erlebt habe, weiß ich, wie gefährlich die Dinge sind. In einem Faust-Fragment von Lessing geht es darum, was auf der Welt das Schnellste ist. "Nicht mehr und nicht weniger als der Übergang vom Guten zum Bösen", ist die Antwort. Ich liebe unser Land, und ich will all das retten, was hier aufgebaut wurde. Die Leute wissen nicht, was sie haben. Und es stimmt, ich bin sehr aufbrausend.
Was erzürnt Sie?
Lendvai: Als ich das Falter-Cover mit Marco Pogo von der Bierpartei gesehen habe, der bei der Nationalratswahl antreten will, dachte ich zuerst, die sind verrückt geworden, die machen diese Propaganda mit. Aber dann habe ich die Zeile gelesen: Pogos Antritt hilft vor allem der FPÖ. Alle profitieren vom Bankrott der großen Parteien und der großen Koalition. Alle wollen mitnaschen. Ich bin überzeugt, dass nur eine echte Volksfront gegen einen rechtsextremen "Volkskanzler" auftreten kann: Bürgerliche, Liberale, Linke, Rechte, alle, denen die liberale Demokratie und die Freiheit wichtig sind.
Sie haben kürzlich im Standard über die extremen Begriffe geschrieben, die FPÖ-Chef Herbert Kickl verwendet. Würden Sie Kickl auch als Heuchler bezeichnen?
Lendvai: Ich habe ihn im Sommer 2021 persönlich kennengelernt. Er war erstaunt, dass ich ihn sprechen wollte, ich war erstaunt, dass er mich empfangen hat. Wir haben in seinem Büro am Rathausplatz ein sehr langes Gespräch geführt. Er hat mir sogar nachher ein Buch über die Geschichte der FPÖ geschickt. Ich hatte den Eindruck eines hochintelligenten, aber nicht wirklich beschreibbaren Mannes. Er war zuerst nur Redenschreiber und Sprücheklopfer, und ich glaube, er war selber überrascht, welchen Erfolg er mit seinen Auftritten seit der Corona-Pandemie hatte. Ein Politiker lässt sich von so etwas treiben, dann kommen verborgene Eigenschaften zum Vorschein. Kickl hat mit dem Bösen Erfolg gehabt. In den Medien wird ständig über ihn gesprochen und gleichzeitig gesagt, man solle nicht über ihn sprechen. Soll man die ganze Zeit nur stillsitzen? Man muss richtig auftreten, offensiv und intelligent!
Ist Kickl nun ein Heuchler?
Lendvai: Ich weiß es nicht. Er hat eine Begabung für Formulierungen. Er hat Sager geliefert, die das Publikum erreicht haben. Er überschreitet rote Linien, wenn er von der "Fahndungsliste von Volksverrätern" spricht und sich zum "Volkskanzler" ernennt. Die Hemmschwelle zu missachten ist das Gefährlichste in der Politik. Aber auch der angeblich so gemäßigte oberösterreichische Vize-Landeshauptmann Haimbuchner von der FPÖ sagte, dass die Journalisten wieder Benehmen lernen müssen. Das ist ungeheuerlich! Davon darf man sich nicht einschüchtern lassen.
In Ihrem Buch haben Sie vor allem Altkanzler Sebastian Kurz von der ÖVP hervorgehoben. Ist Kurz ein perfekter Heuchler?
Lendvai: Sicher. Man muss nur diese Chats lesen, und ich habe sie alle gelesen. Das ist unglaublich. Einige seiner Freunde, die die Menschen in die Irre geführt haben, sind nun wieder in Amt und Würden. Ich spreche es offen aus: Dieses Land wird von Medien bis Politik vom Putin-Regime unterwandert. Hier müssen klare Verhältnisse geschaffen werden. Wirtschaftstreibende, ÖVP-, SPÖ-und FPÖ-Politiker sitzen friedlich mit jenen Personen zusammen, die das Land aus finanziellen oder anderen Gründen untergraben. Ich glaube, dass man die Menschen aufklären kann.
Was muss dafür getan werden? Wäre es ehrlicher, wenn Österreich seine Neutralität wie Schweden und Finnland aufgäbe?
Lendvai: Es ist irreführend, über die Neutralität zu sprechen. Wenn man weiß, dass eines der größten österreichischen Unternehmen, Strabag, zu mehr als einem Viertel in den Händen Oleg Deripaskas war, der einer der engsten Mitarbeiter Putins ist; wenn man weiß, welche Kontakte und welchen Einfluss Siegfried Wolf, Deripaskas engster Freund in Österreich und Kurz' Kandidat für den Vorsitz des Aufsichtsrats der Staatsholding ÖIAG, hat; wenn man sieht, wie hier mit Oligarchen und ihren Verwandten von Tirol bis Wien umgegangen wird und was sie an Immobilien und Firmen besitzen, dann sieht man, dass hier auf Journalisten sehr viel Arbeit wartet.
Das heißt, es geht nicht um die Frage der Neutralität, sondern darum, ob sich in Österreich maßgebliche Personen weiterhin Oligarchen andienen?
Lendvai: Es geht darum, ob man bereit ist, die Zivilgesellschaft zu mobilisieren und die Verwaltung im guten Sinne zu säubern. Deshalb halte ich die Diskussion über die Aufgabe der Neutralität und einen Nato-Beitritt für nicht zielführend. Außerdem werden wir der Nato in dem Zustand, in dem Österreich ist, nicht sehr viel helfen können.
Westliche Politiker sagen, dass Putin sie irregeführt hat - ist das nicht auch Heuchelei?
Lendvai: Ganz klar. Es ist eine Schande, dass der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder nicht aus der SPD ausgeschlossen wurde. 40 Mal hat er Putin während seiner Amtszeit getroffen, danach hat er sich verkauft. Der Oppositionelle Alexei Nawalny bezeichnete Schröder als Putins Laufbursche. Gleichzeitig hat Putin die Leute auch getäuscht, etwa als er seine Rede 2001 auf Deutsch im Bundestag gehalten hat. Ein Würdenträger der SPÖ kann die Rede inzwischen wahrscheinlich auswendig, da er so oft aus ihr zitiert hat. Danach kam der Angriff auf Georgien, Journalisten wurden umgebracht, der Oppositionelle Boris Nemzow wurde 2015 ermordet. Ich war sehr froh, dass Bundespräsident Van der Bellen sich so klar zu Putin und Russland geäußert hat.
Nemzow, den Sie auch persönlich getroffen haben, warnte vor Putin. In Ihrem Buch zitieren Sie ein ARD-Interview aus dem Jahr 2014, in dem Nemzow über Putin sagt: "Er hat sich die Krim genommen. Als Nächstes wird er sich Kiew nehmen, danach ist die Republik Moldau dran, dann Polen und die baltischen Staaten." Wird er weiterhin recht behalten?
Lendvai: Putin hat keine andere Wahl. Er hat Russland wirtschaftlich zugrunde gerichtet und eine Diktatur des KGB errichtet. Ihm bleibt nur die Flucht nach vorn. Ich meine damit nicht, dass übermorgen russische Truppen einmarschieren werden, aber er hat natürlich militärische Möglichkeiten im Baltikum und sieht, in welchem Zustand die EU ist. Das gilt auch für Österreich. Nicht Russland ist die Gefahr, sondern es geht um die Schwäche und die Spaltung der liberalen Demokratie. Nicht nur die Nazis waren Mitte der 1930er-Jahre die größte Gefahr, sondern auch die westlichen Mächte und wie sie auf die Expansion einer Diktatur reagiert haben. Mit einer Bussi-Bussi-Politik kann man nichts ausrichten. Putin ist ein zu allem Entschlossener. Das ist auch eine Tragödie für das russische Volk. Es zahlt einen hohen Preis.
Was soll Europa tun? Aufrüsten?
Lendvai: Es ist sehr lobenswert, dass die Deutschen Pazifisten geworden sind, aber wir leben nun in einem anderen Zeitalter. Mich erschreckt nicht Putin, sondern der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz. Er hat diese große Rede über die Zeitenwende gehalten, und dann ist nichts passiert, oder sehr wenig. Es geht nicht um den Angriff von außen, sondern um die Stabilität von innen. Die Einzigen, die gehandelt haben, sind die Amerikaner. Sie sind wieder einmal die Einzigen, die uns vor der Diktatur retten können. Deshalb ist dieser linke Antiamerikanismus auch so absurd.
Sie kritisieren in Ihrem Buch auch die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel für ihre weiche Russlandpolitik. Warum wurde sie dafür nicht stärker kritisiert, als sie noch an der Macht war?
Lendvai: Vielleicht hat sie gedacht, dass sie Putin zu gut kennt. Oder dass das der Preis für die Ruhe ist, den man zahlen muss. Sie war eine Politikerin der Kompromisse. Aber es gibt eben auch faule Kompromisse. Diese Geschichte mit der Gaspipeline Nord Stream 2 war ein fauler Kompromiss. Ich bin sehr gespannt, wie Merkel das in ihren Memoiren aufarbeiten wird. Wenn sie denn überhaupt erscheinen werden. Ich habe Merkel aber auch bewundert.
Warum? Lendvai: Aufgrund ihrer Haltung zur NS-Vergangenheit, zum Judentum und zu Israel. Ich habe sie einmal in New York bei einer Preisverleihung erlebt. Sie hat dort mit alten deutschstämmigen Juden gesprochen und eine Rede gehalten -ohne Fernsehteams. Und da habe ich den Eindruck der menschlichen Güte gewonnen. Das hat mich tief beeindruckt. Das Zweite war die Öffnung 2015, die Aufnahme der Flüchtlinge. Sie hat danach Fehler gemacht, keine echten Beschlüsse gefasst und einen Kompromiss mit dem politischen Gauner in Ankara geschlossen. Aber bei ihr wäre es unmöglich gewesen, dass sie sich mit Aufsichtsratsposten bestechen lässt wie Schröder.
In vielen dieser großen Konflikte gibt es Anknüpfungspunkte an Ihre persönliche Geschichte. Aktuell der stärker werdende Antisemitismus. Ist es möglich, Beobachterrolle und Persönliches zu trennen? Kann man sich von sich selbst distanzieren?
Lendvai: Nein. Das ist unmöglich. Meine einzige enge Verwandte ist eine Cousine, die in Australien lebt. Sie schreibt mir, dass ihre Kinder und Enkel Angst haben, weil in Sydney propalästinensische Demos mit antisemitischen Parolen stattfinden. Wo immer sie sind, ist, wie Adorno gesagt hat, "das Gerücht über die Juden". Es ist auch schwierig, den Antisemitismus von Israel zu trennen. Auch wenn man, wie ich, ein scharfer Kritiker des israelischen Regierungschefs Netanjahu ist. Netanjahu ist ein Brandstifter; bereit, im Interesse seines politischen Überlebens dieses Land zugrunde zu richten. Ich habe die Demonstrationen gegen seine Regierung bewundert. Daran sieht man, dass Israel eine Demokratie ist. Man muss aufschreien und auf die Straße gehen, wenn man etwas bekämpfen will.
Seit dem 7.10. wird der Antisemitismus weltweit immer stärker. Macht Ihnen das Sorge?
Lendvai: Diese Terrorbande, die so viele Menschen in Israel verschleppt, vergewaltigt und getötet hat, wurde in Gaza gefeiert. Und ich verstehe jeden in Israel, der darauf mit aller Härte antworten will. Aber als Analytiker kann ich sagen, dass damit jeden Tag die Antisemiten stärker werden und Israels Ruf schlechter wird. Es ist eine Tragödie für Israel, für das Judentum und für die Palästinenser.