

Als Thilo Sarrazin das DDR-Volksvermögen abwickelte
Dieter Segert in FALTER 13/2012 vom 30.03.2012 (S. 18)
Die Privatisierung ostdeutscher Industriebetriebe verwandelte ein Vermögen in einen Schuldenberg. Ein Krimi zulasten der Steuerzahler
Was hat das normannische "Domesday Book" aus dem England des elften Jahrhunderts mit der Privatisierung in Ostdeutschland nach 1990 zu tun? Was der Korruptionsskandal im französischen Konzern Elf Aquitaine mit der Treuhand? Und welche Rolle spielt der österreichische Unternehmer Martin Schlaff im "deutschen Goldrausch"?
Im Herbst 2009 wurde in Deutschland gefeiert, dass 20 Jahre zuvor mit dem Rücktritt des Politbüros die endgültige Erosion der DDR begonnen hatte. Dieses Jubiläum wurde vom publizistischen Mainstream kurzer Hand zur Feier der deutschen "Wiedervereinigung" umfunktioniert. Die Feiern 2010, bei denen der 20. Jahrestag des endgültigen Endes der DDR gefeiert wurde, waren so etwas wie ein Aufguss des Jubiläums ein Jahr zuvor.
Allerdings fehlte 2009 wie 2010 ein zentrales Thema, das die dunkle Seite der deutschen Einheit darstellt: die größte Privatisierungsaktion der neueren Geschichte. Nun ist das Buch "Die wahre Geschichte der Treuhand" des Journalisten und Filmemachers Dirk Laabs erschienen. Dort finden sich auch die Antworten auf die oben gestellten Fragen.
Zwischen 1990 und 1994 wurden an die 13.000 DDR-Industriebetriebe privatisiert, filetiert, saniert oder liquidiert. Die Einrichtung, die diese "Abwicklung" (ein alter NS-Begriff, der vom damaligen Finanzminister verwendet wurde) verwirklichte, wurde am 9. Juli 1990 auf Beschluss der Volkskammer der DDR eingerichtet. Seit den ersten Konzepten einer Währungsunion zwischen beiden deutschen Staaten war klar, dass die Bundesregierung bestimmen würde, was in der DDR wirtschaftlich noch möglich wäre.
Sarrazin sagt, wir bestimmen alles
Ein Beamter des BRD-Wirtschaftsministeriums, Thilo Sarrazin, hatte in einem internen Papier im Frühjahr 1990 bereits klar festgestellt: "Wir bezahlen alles, also bestimmen wir alles."
Ganz im Geiste seiner Forderung wurde aus der von der Volkskammer eingerichteten Institution, die sich um das Eigentum der DDR-Bevölkerung treuhänderisch kümmern sollte, bald eine nachgeordnete Einrichtung des deutschen Finanzministeriums, die das Volkseigentum der DDR als Pfand für die absehbaren Risiken einer schnellen Währungsunion in Besitz nehmen sollte.
Die Geschichte hat alle Merkmale eines spannenden Krimis, schon die Kapitelüberschriften machen das deutlich: "Der Verrat", "Das Attentat" oder "Projekt Kronos".
Der Text ist chronologisch gegliedert, teilweise folgt Tag auf Tag. Unbekannte Personen werden uns nahegebracht, bekannte Akteure in ein neues Licht gestellt. Es geht um ostdeutsche Auf- und Absteiger, westdeutsche kriminelle Seilschaften, Beamte aus dem Westen, die es vor der Pensionierung noch einmal wissen wollen. Es geht um prominente deutsche Unternehmen und Banken wie Thyssen, die Deutsche Bank und die Allianz, die sich Filetstücke rausschneiden und Konkurrenten mit allen Mitteln fernhalten, um empörte Gewerkschafter und mutige Unternehmer.
Schließlich wird auch über Schwächen der staatlichen Kontrollinstrumente berichtet, die einem aus aktuellem Anlass merkwürdig vertraut vorkommen: Eine völlig unterausgestattete Sonderkommission für die Wirtschaftsverbrechen, ein Staatsanwalt, der ein Verfahren zu schnell beendet, weil angeblich nicht genügend Beweise vorhanden sind, ein Untersuchungsausschuss, dem vom Ministerium Akten vorenthalten werden.
Interviews lockern den Text auf. Am 9. Februar 1990 erscheint in der Stuttgarter Zeitung ein Gespräch mit Lothar Späth, Präsidiumsmitglied der CDU, zur Idee einer Wirtschafts- und Währungsunion. Späth plädiert für eine Ergänzung der Währungsunion durch die Übernahme der BRD-Eigentumsordnung. Die Zeitung fragt nach: "Das heißt, dass sie die bedingungslose wirtschaftliche Kapitulation der DDR einfordern?" Späth: "Ich sage mal ganz brutal: ja." Der erfahrene Rechercheur Laabs hat Fernsehberichte und Pressemeldungen, frühere Memoiren und Reportagen über die Treuhand ausgewertet, 200 Interviews mit handelnden Personen geführt.
Meisterstück der Neoliberalen
Ein wichtiger Interviewpartner ist der einzige Ostdeutsche unter 46 Direktoren der Treuhand, Detlef Scheunert. Er kommentiert die Ereignisse, und sein Wandel vom persönlichen Referenten des DDR-Ministers für Schwermaschinenbau zum überzeugten Marktradikalen wird glaubwürdig dargestellt.
Dadurch, dass die handelnden Personen ein Gesicht bekommen, wird Authentizität erzeugt. Meist sind die Quellen akribisch genau angegeben, nur manchmal sind sie nicht wirklich nachvollziehbar.
Jedenfalls kann man Wichtiges erfahren und manches erahnen, so auch über den unbändigen Willen der neoliberalen Überzeugungstäter, die seit 1982 in der Bundesrepublik an der Macht waren. Ostdeutschland wurde ihr Meisterstück. Um es mit den Worten der CDU-Politikerin und Expräsidentin der Treuhand, Birgit Breuel, zu sagen: "In vier Monaten haben wir 1000 Unternehmen verkauft. Madam Thatcher hat in zwei Jahren nur 25 geschafft, und die Bundesregierung braucht ein Jahr für eines."
Wer mehr über die Geschichte des Verschwindens ostdeutschen Volksvermögens wissen will, wie aus einem geschätzten Vermögen von 600 Milliarden D-Mark 245 Milliarden Schulden werden konnten, die dem deutschen Steuerzahler aufgebürdet wurden, sollte dieses Buch lesen.
Man sollte sich allerdings ein Wochenende Zeit nehmen, denn es wird schwer, das Buch vor der letzten Seite wieder aus der Hand zu legen.