

In 100 Zügen um die Welt
Gerlinde Pölsler in FALTER 27/2025 vom 04.07.2025 (S. 42)
Wien, Westbahnhof, Sommer 2002. Jeden Morgen stapft ein kleiner Bub, mal mit seinem Vater, mal mit seiner Mutter, durch die automatische Schiebetür, jeden Morgen rennt er los in Richtung Schienen. Das Einfahren und Abfahren der Züge, das Quietschen, die Durchsagen und vielen Menschen: "Für mich war dieser Ort super faszinierend", erinnert sich Elias Bohun.
Wien, Zentagasse, im fünften Gemeindebezirk, vergangenen Mittwoch, gegen Mitternacht. Elias Bohun, 25, drückt auf die Eingabetaste und schaltet seine neue Seite Traivelling.com online, eine Buchungsplattform für Fernreisen mit der Bahn. "Wir machen internationale Zugreisen zugänglich und einfach buchbar", verspricht die Website. Traivelling finde nicht nur "die sinnvollste Route", sondern auch "die billigsten Tickets". Vier Jahre hat Bohun in einem achtköpfigen Team an der automatisierten Suchmaschine gearbeitet.
Für Bohun ist es bereits Ausbaustufe zwei seines Unternehmens: Nachdem er als Maturareise mit seiner Freundin per Zug nach Vietnam gereist war, gründete er mit 19 Jahren gemeinsam mit seinem Vater Matthias das erste gleichnamige Bahnreisebüro. Damals recherchierten die beiden noch alles selbst. Zahlreiche internationale Medien wie Geo, die Süddeutsche Zeitung und der Nachrichtensender NTV berichteten über den jungen Globetrotter und sein Start-up. Forbes Österreich setzte ihn auf die Liste der interessantesten unter 30-Jährigen.
Nun kommt der junge Wiener mit seinem Update genau zur rechten Zeit, denn: Ein Trend zum Zugreisen ist angerollt. Nicht nur innerhalb Österreichs, sondern auch jenseits der Grenzen. Vor allem bei jungen Leuten, aber nicht nur. "Im grenzüberschreitenden Verkehr gibt es in alle Länder ein Wachstum", heißt es von den Österreichischen Bundesbahnen. Diese haben in den vergangenen Jahren auch ihr Angebot an Nachtzugverbindungen rasant ausgebaut und sind nun mit ihren 20 Nightjet-Linien europäische Marktführer. Im Vorjahr zählten die ÖBB in ihren Nachtzügen mehr als 1,4 Millionen Gäste, besonders die Schlafund Liegewagen sind im Sommer teils monatelang im Voraus ausgebucht. Interrail-Pässe, mit denen sich Reisen in 33 Länder günstig kombinieren lassen, gibt es jetzt für alle Altersgruppen; laut ÖBB trägt das zu den steigenden Verkaufszahlen bei.
Bücher mit Titeln wie "Europa ohne Flieger"(Verlag Mairdumont) oder "Europa mit dem Zug" (Reisedepeschen) füllen inzwischen ganze Regalmeter, dazu schießen Websites für Bahnreisefans wie Zugpost.org aus dem Kraut. All das, obwohl gleichzeitig die Fluggastzahlen immer neue Rekorde erreichen und Fliegen in den meisten Fällen erheblich billiger kommt.
Und noch etwas hat das Fernreisen auf Geleisen bisher gebremst: dass das Buchen so schwierig ist. Die Plattformen der einzelnen Landesbahnen sind nicht miteinander verknüpft. Will man auch noch Preise vergleichen, sitzt man schnell Stunden bei der Recherche. Das will Traivelling ändern.
Nachdem er als Kleinkind Fernweh geschnuppert hatte, hat Elias Bohun mit sieben seine erste Nachtzugreise nach Venedig unternommen, immer wieder fuhr die Familie per Bahn durch Europa. Nach der Matura wollten er und seine damalige Freundin "etwas von der Welt sehen", erinnert er sich, "und ich dachte: Wenn man weit weg will, muss man fliegen". Doch da er sich schon zu Schulzeiten in Klimaschutzprojekten engagierte, wurmte ihn das, und er fand heraus, dass man damals -2019, also lange vor dem Ukraine-Krieg -mit dem Zug über Osteuropa, Russland, Kasachstan und China bis nach Südostasien reisen konnte. Dann also nach Hanoi, beschloss das junge Paar.
Das Buchen allerdings war eine Mordsarbeit. In jedem Land mussten die beiden Reisebüros oder andere Vermittler finden, die für sie vorab Tickets kauften und hinterlegten. Zusätzlich galt es, eine Reihe von Visa zu besorgen, "doch in vielen Ländern konnte man ohne Bestätigung, dass man ein Reiseticket hat, kein Visum beantragen. Es war eine monatelange Quälerei".
Gekostet hat die Reise kaum mehr als ein Flug. Die Fahrt selbst dauerte 16 Tage inklusive Übernachtungen und touristischer Zwischenstopps. Das wird mühsam, dachte Bohun vorher, doch es kam ganz anders. "Zugreisen bildet genau das ab, was die meisten Leute vom Reisen wollen: viele Eindrücke sammeln, neue Menschen kennenlernen", schwärmt er. "Anders als beim Fliegen bekommt man ein Gefühl für das, was auf dem Weg liegt." Die beiden fuhren durch unterschiedlichste Klimazonen, sie durchquerten die sibirischen Wälder, eine Steppenlandschaft und die Wüste Gobi, bevor sie tropische Gefilde erreichten. Für den 18-Jährigen war es die beste Erfahrung seines Lebens. "Klimaschutz ist für mich eine große Motivation, mit dem Zug zu fahren", sagt er heute. "Ich würde aber so oder so Bahn fahren, ich habe immer von der Fahrt selbst am meisten zu erzählen."
Spannend ist auch die Geschichte des Vielreisenden Robert Reithofer. Bei ihm gab der Klimaschutz den Ausschlag dafür, dass er nun auch für weiter entfernte Ziele in den Zug (oder Bus) steigt. Früher ist der Geschäftsführer der Grazer NGO Isop, die Bildung und Beratung für Migranten, Flüchtlinge und arbeitslose Menschen anbietet, öfter geflogen, auch weit. Jetzt nicht mehr. Für ihn gibt es zwar viele Gründe, dass jemand das Flugzeug nehmen muss, und er will auch niemanden bekehren. "Aber für mich", sagt er, "passt es einfach nicht mehr, in den Urlaub zu fliegen."
So kommt es, dass Reithofer nun, auch wenn er mit mehreren Leuten unterwegs ist, schon einmal eine Woche früher aufbricht als der Rest der Gruppe. So etwa bei einer Reise nach Marokko.
Als die anderen in Marrakesch ankamen, hatte Reithofer schon: Genua besucht (und dort zuerst den Ausstieg verpasst, aber das ist eine andere Geschichte); auf der Fähre nach Tanger, der Hafenstadt an der Straße von Gibraltar, Familien mit 30 Koffern getroffen, die ihren gesamten Hausrat per Schiff übersiedelten; von Tanger aufs spanische Festland geblickt; in marokkanischen Zügen mit Sitznachbarn geplaudert.
Stundenlang kann der 63-Jährige von den Irrungen und Wirrungen bei seiner Reise ins irakische Erbil erzählen, wohin ihn ein kurdischer Freund eingeladen hatte: Den ersten Teil absolvierte er im Zug, bis Istanbul, wo er ein paar Tage verbrachte. "Als ich dort in den Bus umstieg, landete ich in einer anderen Welt." Frauen tischten am Boden zwischen den Sitzreihen Picknicks auf und luden ihn zum Mitessen ein. Aus seiner Geldtasche kramt Reithofer einen Zettel mit Namen und Mailadresse eines schwedischen Kurden, der ihn an der irakisch-türkischen Grenze aus einer sprachlich bedingten Patsche befreite und mit dem er danach viele Stunden im Bus verbrachte. Reithofer sagt heute: "Mir taugt diese neue Art des Reisens."
Der organisatorische Aufwand allerdings - das Zusammenstoppeln der Reise mit der Bahn und vielleicht noch zusätzlich dem Bus -schreckt viele andere ab. Zwar gibt es schon Plattformen, die länderübergreifend suchen. Elias Bohun will sie aber übertreffen. Traivelling habe die Routen so zusammengestellt, dass sie "nach touristischen Kriterien am sinnvollsten sind". Mit möglichst viel Zeit in einem Nachtzug, möglichst direkten Verbindungen und wenigen Umstiegen. "Aber auch mit möglichst wenigen innerstädtischen Transfers und genügend langen Umstiegszeiten."
Auch preislich will Traivelling punkten: Das System vergleicht für jede Reise, was billiger ist, Einzeltickets oder ein Interrail-Pass. Damit lassen sich mehrere hundert Euro sparen. Ein Versuch: Das System soll Tickets für eine Reise von Wien nach Barcelona und retour finden. Es spuckt für Einzeltickets Preise zwischen 351,11 und 557,07 Euro für eine Richtung aus, zeigt aber auch den Preis für ein Interrail-Ticket an: 353 bis 380 Euro, hin und zurück. So lassen sich also bis zu 761 Euro sparen.
Drittens durchsucht Traivelling, falls die Zugverbindung irgendwo endet, auch die Fahrpläne hunderter Busanbieter. Sagt man der Suchmaschine etwa, man wolle von Graz nach Zadar in Kroatien, findet sie Zugtickets bis Zagreb oder Split; für den letzten Abschnitt schlägt sie einen Bus nach Zadar vor. Der Benutzer oder die Benutzerin kann dann mit einem Klick beides buchen. Als Gebühr verrechnet Traivelling laut Bohun fünf bis sieben Prozent des Ticketpreises.
Nur beim Falter-Versuch, eine Verbindung ins estnische Tallinn zu recherchieren, findet die Plattform plötzlich nichts. In einem solchen Fall können sich die Kunden per Chat oder Telefon weiterhelfen lassen. Kommt die Buchung dann nach einer Extra-Recherche zustande, werden 15 Prozent des Ticketpreises fällig. "Um eine Fahrt in die Südtürkei zu recherchieren", sagt Bohun, "sitze nämlich auch ich ein paar Stunden."
Auch wenn auf der Reise etwas schiefgeht, kann man bei Traivelling anrufen: "Tagsüber sind wir sieben Tage die Woche erreichbar", verspricht Bohun.
Das Buchen wird nun also hoffentlich einfacher. Aber was ist mit den im Vergleich zum Fliegen höheren Preisen?
Für die meisten Strecken sind Flugtickets tatsächlich deutlich billiger, weiß Herwig Schuster von Greenpeace. Die NGO führt immer wieder groß angelegte Preisvergleiche durch. "Vor allem auf längeren Strecken - zum Beispiel von Wien nach Kopenhagen oder London - hat der Zug derzeit keine Chance", sagt Schuster. Besonders teuer kommen jene Reiseziele, für die die ÖBB keine durchgehenden Tickets verkaufen können, etwa nach Stockholm. Oder London: Da können die Kunden bei den ÖBB nur bis Brüssel buchen, danach ist ein separates Eurostar-Ticket notwendig.
Ein wesentlicher Grund für die billigen Flugpreise liege im unfairen Steuersystem: Weder gibt es eine Steuer auf Kerosin noch eine Umsatzsteuer auf internationale Flüge.
Österreich verrechnet nicht einmal auf den inländischen Teil der Strecke Umsatzsteuer. "In Deutschland gibt es übrigens aufgrund der Flugticketsteuer keine Tickets unter 30 Euro", erklärt Schuster, "während in Österreich Ryanair-Flüge ab 14,99 Euro verkauft werden, zum Beispiel nach Venedig und Rom." Klimatechnisch gesehen ist das völlig absurd, verursacht doch Fliegen mindestens fünfmal so viel Kohlendioxid wie eine Zugfahrt. Und der Flugverkehr ist die am schnellsten wachsende Quelle für verkehrsbedingte Treibhausgasemissionen in der EU.
Herwig Schuster hat jedoch auch einige Strecken entdeckt, "wo der Zug meistens bis immer günstiger ist, etwa Wien-Warschau oder Wien-Berlin" (bezogen auf One-Way, jeweils die billigste Kategorie ohne Zuschläge). Auch die Nightjets seien oft preiswert und für weit unter 100 Euro zu buchen. Nach Rom zum Beispiel ist man aktuell ab 54,90 Euro dabei. Freilich: "Gegen Ryanair-Tickets um 21,99 Euro ist der Nachtzug chancenlos. Und in der Hälfte der Tage teurer, teils um mehr als das Dreifache."
Andere Argumente gegen das Bahnfahren: Es dauere so viel länger. Elias Bohun lässt das nur sehr bedingt gelten: "Man kann mit der Bahn von Wien aus 20 Länder innerhalb von 24 Stunden erreichen." Auch werde beim Fliegen oft die zusätzliche Zeit fürs rechtzeitige Einchecken vergessen sowie jene Zeit, die man braucht, um die -außerhalb der Stadtzentren gelegenen -Flughäfen zu erreichen. "Während ich bei einer Fahrt mit dem Nachtzug am Abend losfahre und am nächsten Tag in Toulouse, Kopenhagen oder Manchester bin" - und zwar mitten in der Innenstadt."
Gerade die jüngsten Nightjet-Züge, jene "der neuen Generation", erhalten in vielen Tests und Berichten rundum Lob: Die Liege-und Schlafwagen (für eine, zwei oder drei Personen buchbar) seien noch komfortabler, und Alleinreisende genießen in den Mini-Cabins absolute Privatsphäre. Nur die Sitzwagen haben sich laut Bohun verschlechtert: "Die alten konnte man so zusammenschieben, dass man eine Art Bett hatte." Gerade junge Leute hätten diese günstige Variante gern genutzt. Bei den neuen sei das nicht mehr möglich, "in denen schläft man extrem schlecht".
Nun tut sich jedoch das nächste Problem auf: Die Bahn könnte gar nicht viel mehr Leute als jetzt transportieren. Der Zuwachs ist besonders nach Deutschland und Tschechien schon sehr hoch. Und bei den Nightjets sei "eine weitere Erhöhung der Fahrgastzahlen aufgrund der bereits sehr hohen Auslastung kaum möglich", so ein ÖBB-Sprecher. Vor allem nach Paris, Amsterdam und Hamburg wollen immer mehr Menschen bequem im Schlafwagen rollen. Der Nachtzug nach Paris fährt nur dreimal pro Woche. Wer da jetzt noch im Sommer per Nightjet hinwill, bekommt teils bestenfalls noch einen Platz im Sitzwagen. Oder zahlt schon mal mehr als 300 Euro.
Ein weiterer Ausbau der Nachtzüge ist aber nicht vorgesehen: Es fehlt an zusätzlichen Nightjet-Zuggarnituren. "Aber auch operative Schwierigkeiten unserer Partner sind Gründe dafür, dass nicht alle Linien täglich bedient werden", so die ÖBB: Zum Beispiel mangle es an geeigneten Lokomotiven. Oder es gebe einfach keine freien Slots mehr, sprich: Einzelne Strecken sind schon so stark befahren, dass sich keine weiteren Fahrten mehr draufquetschen lassen.
"Dass im Sommer ohnehin schon alles ausgebucht ist, ist ja schön für die Betreiber", sagt Bohun. "Aber sie dürfen sich nicht darauf ausruhen." Damit noch mehr Leute klimafreundlich per Bahn fahren können, brauche es einen Ausbau der Kapazitäten. Und dafür politischen Druck.
Wohin es ihn selbst heuer zieht? "Nach Schottland." Jeden Tag an einen anderen Strand zu hüpfen sei mit dem Zug dort zwar nicht möglich. "Aber wir wollen ohnehin wandern. Es passt für uns."
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