

Ein kluges Herz und ein gut gewetzter Schnabel
Klaus Nüchtern in FALTER 29/2015 vom 17.07.2015 (S. 31)
Jane Austens Roman „Stolz und Vorurteil“ erfreut sich seit zwei Jahrhunderten ungebrochener Beliebtheit. Zu Recht
Die permanente Popularität, auf die Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ seit seinem Erscheinen zählen kann, wird auch durch die Anzahl der Adaptionen belegt. Der dialogstarke und hauptsächlich indoors spielende Roman ist für Bühnenfassungen bestens geeignet, und der Mangel an Action wird durch den Ausstattungsaufwand, der das Herz von Kostümkinoconnaisseuren höher schlagen lässt, locker wettgemacht.
Bei allen Schauwerten, die in den Verfilmungen geboten werden, ist es indes keineswegs selbstverständlich, dass sich der Roman über 20 Millionen Mal verkauft hat. Und obgleich der 200. Geburtstag des Romans zwei Jahre zurück und der 200. Todestag der Autorin noch zwei Jahre vor uns liegt, ist soeben eine Neuübersetzung erschienen. Dass dort die „Mädels“, die „in der Hektik und dem Durcheinander“ stets „mit von der Partie“ sind, „ganz lässig“ im Kutschenfenster lehnen, ist vielleicht etwas übertrieben salopp, tut dem Lektürevergnügen aber keinen nachhaltigen Abbruch.
Solch artifizieller Aktualisierung bedarf der Roman auch gar nicht, denn die Konflikte und Diskurse, die „die Erfinderin des modernen Gesellschaftsromans“ (Felicitas von Lovenberg in ihrem Nachwort) in „Stolz und Vorurteil“ vor uns ausbreitet, sind noch immer gut nachvollziehbar. Die Art und Weise, wie wir heute über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft oder jenes der Geschlechter nachdenken, speist sich aus Quellen, die hier frisch und lauter hervorsprudeln.
Jane Austen war das siebente Kind des Geistlichen George Austen und dessen Frau Cassandra, die gleichfalls einer bedeutenden adeligen Familie entstammte. Sie war aber auch eine Tochter der Aufklärung. Ihr Debüt, das 1811 anonym als „a novel by a lady“ erschien, trägt den Titel „Sense and Sensibility.“
Der deutsche Titel „Verstand und Gefühl“ trifft’s nicht ganz und wäre mit „Verstand und Empfindsamkeit“ adäquater übersetzt. Damit sind jene Wesenskräfte benannt, mit denen sich auch Elizabeth „Lizzy“ Bennet, die Protagonistin des Folgeromans, gegen die Zumutungen ihrer Umwelt wehrt. Weil der Titel aber schon vergeben war, behielt Austen nur das erfolgreiche alliterative Muster bei: „Pride and Prejudice.“ A novel by the author of „Sense and Sensibility“.
Wie ihre Erfinderin ist Lizzy eine Frau adeliger Abkunft mit bürgerlichen Reflexen. Sie verfügt über mehr (Herzens-)Bildung als ihre vermeintlich höhergestellten Zeitgenossen und kennt keine falsche Scham, wenn es darum geht, dies mithilfe ihres gut gewetzten Schnabels kundzutun – und zwar nicht nur im verbalen Showdown mit der bis zum Abwinken bornierten Lady Catherine, sondern auch in der beherzten Bockigkeit, mit der sie zunächst der Arroganz, später dann den überraschenden und vorerst erfolglosen amourösen Avancen von Fitzwilliam Darcy widersteht.
Angesichts der schmierigen Selbstgefälligkeit, mit der es sich die „korrekte“ Gesinnung von heute zwischen Wertschätzungskitsch und geiferndem Denunziantentum gemütlich gemacht hat, ist Austens erstaunlich bösartiger Sarkasmus, der auch die unmittelbaren Mitglieder einer so gar nicht heilen Familie keineswegs verschont, eine wahre Wohltat.
Lizzys Mutter hingegen ist ein unerschöpflicher Born des Fremdschämens, und daran, dass sie dumm ist wie Yorkshire Pudding, lässt ihr dauergenervter Gatte, den sie „Mr. Bennet“ nennt, am allerwenigsten Zweifel.
Ähnliches gilt leider auch für zwei bis drei der verbleibenden vier Bennet-Töchter. Lediglich Jane, die mit ihren 22 Jahren vor dem Abgrund einer Existenz als alte Jungfer steht und ergo dringend an den in jeder Hinsicht gewinnenden Mr. Bingley gebracht werden muss, macht eine Ausnahme. Wobei die sie innig liebende Lizzy auch hier ohne alle Illusionen bleibt: Janes Menschenliebe verdankt sich schlicht mangelndem Scharfblick.
Als genuine Dialektikerin ist Austen vor falschen Oppositionen gefeit: Pure Vernunft darf bei ihr ebenso wenig siegen wie pures Gefühl, denn beides entfaltet sich im Wechselspiel.
Als Lizzys beste Freundin Charlotte den dünkelhaften Dummbeutel Mr. Collins aus „dem nüchternen Wunsch, versorgt zu sein“, das Jawort gibt, das Lizzy selbst diesem nur kurz zuvor verweigert hat, wird dies mit geschliffener Ironie quittiert und nicht mit offener Verachtung. Daran, dass Charlotte ihr „unveräußerliches Recht“ auf „das Streben nach Glückseligkeit“ verraten hat – wie es die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten ein Jahr nach Austens Geburt festschrieb –, lässt der Roman allerdings keinen Zweifel.
Die erstaunliche Modernität von „Stolz und Vorurteil“ manifestiert sich nirgends so deutlich wie in der Lovestory. Nicht ob sich die aufgeweckte Lizzy und der bis zur Morosität spröde Darcy kriegen, ist in diesem anti-apotheotischen Roman entscheidend, sondern wie.
Obwohl Manieren und Manieriertheit bei Austen nie weit auseinanderliegen, bleibt eines klar: Das vielfach beschworene Ideal der Natürlichkeit verdankt sich einer kulturellen Anstrengung, und die Sprache des Herzens bedarf akribischer Lektüre.
Love is not simple at all. Liebe ist: gemeinsam darüber nachdenken, was man sich eigentlich gesagt und geschrieben hat. Wobei eindeutige Ergebnisse durchaus nicht ausgeschlossen sind: „So – jetzt habe ich dir die Mühe erspart, selbst eine Erklärung zu liefern; und ich muss sagen, wenn ich darüber nachdenke, finde ich die meine durch und durch vernünftig.“