

Männerfreundschaft in Manhattan
Sebastian Fasthuber in FALTER 10/2011 vom 09.03.2011 (S. 7)
In "Chronic City" von Jonathan Lethem spielt zwischen Hudson und East River nicht nur das Wetter verrückt
Sie sind selten, aber es gibt sie: Romane, bei denen schnell klar ist, dass zwischen diesen Buchdeckeln nichts schiefgehen kann. Auf der ersten Seite von "Chronic City" wird ein Autorenfilmer namens Von Tropen Zollner erwähnt. Der ist zwar frei erfunden, aber leicht auf Michael Zöllner vom Tropen Verlag zurückzuführen – eine Geste des Autors gegenüber jenem Verleger und Übersetzer, der ihn im deutschsprachigen Raum bekanntgemacht hat. Jetzt wissen wir, dass Lethem, der derzeit als Nachfolger von David Foster Wallace am Pomona College Literatur unterrichtet, ein netter Kerl ist.
Dass er schreiben kann, hat Lethem schon
mit Büchern wie der Detektivgeschichte "Motherless Brooklyn" oder dem Bildungsroman "Die Festung der Einsamkeit" unter Beweis gestellt. Beide spielten in Brooklyn. In "Chronic City" zieht es ihn erstmals nach Manhattan: Die Lower East Side dient als Schauplatz und wacht zugleich über die Geschicke der Figuren .
"In Manhattan zu leben", heißt es an einer Stelle, "bedeutet, ständig darüber zu staunen, wie viele Welten hier ineinander verschachtelt sind, mit welch chaotischer Komplexität sie sich verschränken, ähnlich den Fernsehkabeln und den Wasser-, Heizungs- und Abflussrohren, die gemeinsam dieselben Schächte bevölkern (
)."
Dieses Manhattan erinnert an jenes, das man aus Filmen, Büchern und Besuchen als das wirkliche Manhattan zu kennen meint. Einiges jedoch scheint durcheinandergeraten zu sein. So herrschen etwa ständig winterliche Verhältnisse, und wenn es im August mal nicht schneit, halten die New Yorker das für einen guten Sommertag.
Zudem hält ein Tiger die Bewohner in Atem. Er verfügt über die Kraft, ganze Wohnhäuser derart zu beschädigen, dass sie unbewohnbar werden. Vielleicht handelt es sich beim Tiger aber auch nur um ein Gerücht aus dem Büro des Bürgermeisters, und in Wahrheit kümmert sich eine Tunnelbohrmaschine nachts darum, die letzten Apartments, für die noch Mietpreisbindung gilt, auf brachiale Art zwangszuräumen.
Einer solchen Aktion wird jedenfalls am Ende auch der Unterschlupf von Perkus Tooth zum Opfer fallen, einem der beiden traurigen Helden des Romans. Tooth war einst Rockkritiker beim Rolling Stone und hat in grauer Vorzeit mit extravaganten Straßenplakaten für Furore gesorgt. Als ihn Chase Insteadman kennenlernt, sitzt er nur mehr in seiner Wohnhöhle, umgeben von Büchern, CDs und DVDs sowie viel gutem Dope, und brabbelt krude Theorien über Marlon Brando vor sich hin.
Insteadman seinerseits ist ebenfalls ein has-been, dessen Ruhm als Schauspieler einzig auf einer Nebenrolle in einer sehr blöden, aber auch sehr erfolgreichen und in Endlosschleife wiederholten 80er-Jahre-Serie basiert. Er arbeitet nicht mehr und dient lediglich als Tischdekoration bei Abendgesellschaften der Reichen. Aber lieber verliert er sich in Perkus' abstrusen, aber auch faszinierenden Gedankenwelten; der schielende Lehrmeister und sein naiver Schüler können bald nicht mehr voneinander lassen.
Auf der Ebene der Charaktere ist "Chronic City" die berührende Geschichte einer unwahrscheinlichen Männerfreundschaft. Hier schlägt das Herz dieses bis in kleinste Nebenrollen erstklassig besetzten Buches.
Dass die Parallelgeschichte um Insteadmans im All gestrandete Astronauten-Geliebte blass bleibt, ist der einzige wirkliche Schwachpunkt des Romans, aber vernachlässigenswert, denn rundherum gibt es viel erstklassigen Stoff, der Hirn und Zwerchfell gleichermaßen stimuliert.
Eines Tages fragt sich Perkus, ob sein Haschdealer seine Sorten (z.B. "Purple Tiger") nach den aktuellen Ereignissen in der Stadt benennt. Oder lassen sich vielleicht umgekehrt die Redakteure der New York Times von seinem Zeug zu ihren Schlagzeilen inspirieren? "Hierbei frohlockte sein apokalyptisches Auge." Thomas Pynchon lässt grüßen. Dennoch ist Lethem der Roman nicht zur postmodernen Zitatorgie verkommen. Er hält sozusagen die goldene Mitte zwischen Pynchon und Franzen. Darin liegt seine Klasse.