

Wladimir Putins Philosophen
Martin Staudinger in FALTER 32/2022 vom 12.08.2022 (S. 22)
An Büchern, die den Anspruch erheben, Wladimir Putin zu entschlüsseln, herrscht momentan kein Mangel -meist bleiben sie die Einlösung ihres Versprechens allerdings schuldig. Eine angenehme Ausnahme macht da (trotz des eher boulevardesken Titels) "In Putins Kopf" von Michel Eltchaninoff.
Der Chefredakteur des französischen Philosophie Magazine beschreibt darin, von welchen Denkern sich der Kreml-Chef inspirieren lässt und wie er sein politisches Handeln an deren Ideen ausrichtet. Es sind hierzulande weitgehend unbekannte Philosophen wie der christliche Existenzialist Nikolai Berdjajew (1874-1948), der Religionsphilosoph Wladimir Solowjow (1853-1900, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Chefpropagandisten des russischen Staats-TVs) oder Iwan Iljin (1883-1954). Letzterer, ein glühender Antikommunist und Nazi-Sympathisant, träumte im Schweizer Exil von einem faschistischen Putsch in der UdSSR und warnte vor einem vereinten Europa, das Russland zerschlagen und sich Regionen wie das Baltikum, den Kaukasus und die Ukraine einverleiben wolle.
Dass Putin diese Zwangsvorstellung vollinhaltlich übernommen hat, ist mehr als bloß Vermutung: 2014 verdonnerte er alle höheren Beamten und Politiker seines Landes zur Lektüre eines Sammelbandes mit Iljins Essays. Titel: "Unsere Aufgaben". In Reden nimmt Putin immer wieder Bezug auf seinen erklärten Lieblingsautor, für den er bereits 2009 auf eigene Kosten einen Grabstein hat errichten lassen.
Iljin ist aber nur einer von vielen Denkern, die Eltchaninoff zitiert. Dabei beschränkt er sich nicht darauf, anhand konkreter Beispiele ihren Einfluss auf Putin zu belegen - er schildert auch, wie dieser ihre Philosophie manipulativ instrumentalisiert. Dass das Buch bereits 2016 erschienen ist und nur hastig um ein aktuelles Kapitel ergänzt wurde, tut seiner Relevanz keinen Abbruch: Es führt vielmehr vor Augen, dass man viel von dem, was am 24. Februar losbrach, längst hätte voraussehen können.