

„Du wirst genauso enden wie deine Großmutter“
Kirstin Breitenfellner in FALTER 42/2023 vom 20.10.2023 (S. 34)
Am 7. Oktober 2006, dem 54. Geburtstag von Wladimir Putin, wurde Anna Stepanowna Politkowskaja am helllichten Tag im Eingang ihres Hauses ermordet. Sie war erst 48 Jahre alt gewesen. Die streitbare Journalistin hatte die Gefährlichkeit des „Systems Putin“ früh erkannt und schonungslos offengelegt. Obwohl die westlichen Medien ihre Exekution bereits damals als ein Symptom von Putins Herrschaft ansahen, hielten ihre Regierungen an der Appeasement-Politik gegenüber dem russischen Präsidenten fest.
Politkowskaja gilt heute als Symbol für eine unbeirrbar an der Wahrheit festhaltende Berichterstattung. 2007 stiftete die NGO „Reach All Women in War“ einen nach ihr benannten Preis für Frauen, die sich in Konflikten und Kriegen für die Opfer einsetzen. Im Falle Politkowskajas betraf dieser Einsatz vor allem die beiden Tschetschenienkriege von 1994–1996 und 1999–2009, die Putin von seinem Vorgänger Boris Jelzin „übernommen“ und zum Instrument des Erhalts seiner Macht ausgebaut hatte, wie Vera Politkowskaja meint.
Dass die Tochter von Anna Politkowskaja, die sich bis dato in der Öffentlichkeit eher zurückgehalten hatte, gerade jetzt ein Buch veröffentlicht, liegt an einem weiteren Krieg Wladimir Putins. Es trägt den markigen Titel „Meine Mutter hätte es Krieg genannt“ und spielt damit auf das mit Strafandrohung untersagte Wort für den Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 an.
„Meine Mutter war nie bequem“, lautet der erste Satz dieses aufwühlenden Buchs, das das Leben der so mutigen wie unerbittlichen Frau aus der Sicht einer Tochter schildert, die gewiss darunter gelitten hat, von klein auf mit Drohungen gegen ihre Eltern, aber auch die ganze Familie leben zu müssen – und die ihre Mutter trotzdem zu verstehen versucht. Mit der Unterstützung der Journalistin Sara Giudice entstand ein liebevolles Porträt einer Kompromisslosen, mühelos zwischen privater und politischer Sphäre hin und her springend, die ja auch im Leben Anna Politkowskajas nie scharf getrennt waren.
Zum Zeitpunkt der Ermordung ihrer Mutter war Vera Politkowskaja 26 Jahre alt und schwanger. Bevor sie das Land am 17. April 2022 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit ihrer 15-jährigen Tochter verließ, war diese in der Schule zum ersten Mal selbst mit Morddrohungen konfrontiert worden, weil sie den Krieg gegen die Ukraine kritisiert hatte. „,Du wirst genauso enden wie deine Großmutter‘, versprach ihr Agate, eine Klassenkameradin, und schilderte ihr im Detail, wie es passieren würde.“
Dass der Ort ihres „freiwilligen“ Exils geheim gehalten wird, ist gut so. Ebenso, dass Vera Politkowskaja, die zunächst eine Musikausbildung am Moskauer Konservatorium erhielt und zwischen 2013 und 2022 als Autorin für die Fernsehsendung „Praw!Da?“ arbeitete, mit diesem Buch sozusagen erstmals in die Fußstapfen ihrer Mutter tritt.
Anna Politkowskaja hatte zeit ihres Lebens davon geträumt, Journalistin zu werden. „Es gab keinen ,Plan B‘.“ Zugute kam ihr die Perestroika genannte Öffnung unter der Präsidentschaft Michail Gorbatschows. „Sie verkörperte deren Geist vollkommen, den Wunsch nach Veränderung: Sie träumte von einer vollgültigen Demokratie, und sie träumte davon, ihren Beruf in einem freien Land auszuüben.”
Wie viele Frauen in der Sowjetunion war sie jung Mutter geworden. Sohn Ilja wurde 1978 geboren, Tochter Vera 1980.
Mit ihrem Mann, dem Journalisten Alexander Politkowski, führte sie eine von Vera als „explosiv“ bezeichnete Beziehung. Trotzdem bekamen sie gemeinsam so etwas wie ein normales Familienleben hin. Anna kochte und buk mit Leidenschaft, liebte es, Gäste zu bewirten, und genoss den Garten der Datscha, die nach Veras Flucht kaum zufällig in Flammen aufging.
Anna Politkowskaja konnte nicht anders, als sich einzusetzen. So auch 2002 als Vermittlerin im Geiseldrama in einem Moskauer Musicaltheater oder 2004 in Beslan nach der Geiselnahme an einer Schule mit hunderten Toten und Verletzten, wo sie zum Opfer eines nach wie vor ungeklärten Giftanschlags wurde.
„Sie schrieb für die Zukunft. Sie war das lebende Mahnmal für die unschuldigen Opfer des Gemetzels.“ Unzählige Male fuhr sie selbst nach Grosny, deckte Skandale auf und wurde in Moskau zu einer Anlaufstelle für die kleinen Leute, die unter dem Krieg litten – und damit auch zu so etwas wie einer persönlichen Feindin Putins.
„Wenn Vera oder Ilja mir ankündigen, dass ich Großmutter werde, dann höre ich auf, nach Tschetschenien zu fahren“, sagte Anna Politkowskaja einmal, als ihre Kinder noch zu jung waren, um daran auch nur zu denken. Es sollte genauso kommen. Nur anders, als sie es gemeint hatte.
Wer die Drahtzieher des Auftragsmords waren, darüber wird heute noch spekuliert. 2014 wurden fünf Männer schuldig gesprochen, vier davon Tschetschenen. Vera Politkowskaja ist davon überzeugt, dass Putins damaliger Schützling Ramsan Kadyrow, heute Präsident von Tschetschenien, darin involviert war.
„Ich finde, ich habe als Mutter nicht das Recht, meiner Tochter das Leben schwer zu machen.“ Dieser Satz gehört zu den wenigen Stellen, an denen Vera Politkowskaja implizit Kritik an den Prinzipien ihrer Mutter übt. Ihr von großem Respekt vor deren Vermächtnis getragenes Buch erzählt nicht nur die Biografie einer außergewöhnlichen Frau, sondern hat auch das Zeug, als Ausgangspunkt für Diskussionen über die Notwendigkeit der Aufklärung unter den Bedrohungen autoritärer Regimes zu dienen. Auch und gerade im politischen Unterricht für Heranwachsende.