
Ein Wutbuch zum Abschied
Erich Klein in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 36)
Er war Professor für Anthropologie an der renommierten London School of Economics und wurde als Verfasser von Weltbestsellern wie „Schulden: Die ersten 5000 Jahre“ (2012) und „Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit“ (2018) zum Popstar der Linken. Vielleicht ist es nicht die „ultimative heimliche Wahrheit“, wie der posthum erschienene Essayband von David Graeber (1961–2020) betitelt ist, die man über den Vordenker von „Occupy Wallstreet“ erfährt. Hinweise zu dessen akademischem Anarchismus finden sich aber zuhauf.
Graeber griff in seinem Denken ein wildes Gemisch aus Feminismus, spiritueller Tradition der Quäker, Anti-Atombewegung und brasilianischen und indischen Bauernbewegungen ebenso auf wie die Aktionen der Anti-Globalisten mit ihrem Protest gegen den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank. An die Adresse Letzterer schreibt er sarkastisch: „Wir wissen heute, dass die Märkte sich nicht selbst führen und dass die Leute, die sie führen, keineswegs unglaubliche Genies sind, die wir unmöglich verstehen können.“
In der „Wutrede über die Arbeit“, einer Kürzestversion seines Bestsellers „Bullshit Jobs“, heißt es in der für Graeber typischen Lakonie: „In unserer Gesellschaft scheint es die Regel zu sein, dass man umso weniger für eine Arbeit bezahlt wird, je mehr sie anderen Menschen nützt.“ Er polemisiert gegen die Wirtschaftswissenschaft, in einer Diskussion mit dem Starökonomen Thomas Piketty kommt Graeber zu dem Schluss, dass dem Neoliberalismus politische und ideologische Erwägungen wichtiger seien als wirtschaftliche.
Im Essay „Kultur als kreative Ablehnung“ sinniert Graeber, der sich einst auch als ethnografischer Feldforscher mit der Sklaverei auf Madagaskar befasste, über das Patriarchat und „heroische Gesellschaften“, um schließlich bei Homer und der Bibel zu landen. „Alle heroischen Gesellschaften lehnen gewisse Merkmale der in der Nähe gelegenen Kulturen ausdrücklich ab, so den Handel und insbesondere die Schrift. Der Ersatz sind in der Regel Dichter oder Priester, die Geschichten auswendig lernen oder raffiniert Techniken mündlicher Dichtung anwenden: Geld wird, sowohl in seiner materiellen Form wie auch als Kredit, gemieden.“
Man mag hinter solch hochgebildeten Reflexionstiraden den Aktivisten Graeber im Selbstporträt erkennen. Der ist aber schon weiter und singt ein Loblied auf die „Hassrede“, die im 21. Jahrhundert endgültig tabuisiert worden sei: „Es würde uns gut anstehen, meine ich, ein bisschen von der Welt der Antike zu lernen. Der Hass auf die Ungerechtigkeit kann eine Form der Tugend sein.“ Über selbstgefälliges Rabaukentum hinaus gehe es als „Ausdruck kollektiver Liebe“ darum, „Netze des Hasses durch solidarische Praktiken aktiv zu überwinden“.
Wem derlei zu fromm anmutet, der lese den Essay „Tote Zonen der Fantasie“, Überlegungen zu Gewalt und Bürokratie mit Merksätzen wie diesem: „Polizisten sind in erster Linie Bürokraten mit Waffen.“ Der moralphilosophische Traktat unternimmt Sidesteps zu Sherlock Holmes und James Bond und bringt schließlich in der Analyse des Polizisten gar Max Weber, den Ahnherrn der modernen Soziologie, ins Spiel: In der Populärkultur der Fernsehserien wurde der Polizist zur Identifikationsfigur, was selbst die Bürger einer Industriegesellschaft dazu bringe, die Weltsicht der Polizei zu übernehmen.
Am Ende steht ein mehrteiliger Essay über zeitgenössische Kunst als – wie könnte es anders sein?! – Ableger der Finanzbranche. Ausgangspunkt ist dabei die Idee, Kunst als Leitprinzip der Befreiung zu verstehen, sprich: Jeder Mensch ist ein Künstler. Dem gegenüber steht die noch immer vorherrschende romantische Idee vom Künstlergenie. Der im Alter von 59 viel zu früh verstorbene David Graeber verfügte über die seltene Doppelbegabung, beides zu sein – Genie und Alltagskünstler.



