

"Lektür mich am Arsch"
Sebastian Fasthuber in FALTER 33/2025 vom 15.08.2025 (S. 29)
Raphaela Edelbauer stellt sich gern komplizierte Aufgaben. Zu Beginn ihrer Laufbahn kombinierte sie Kraftsport und Literatur zu mehrstündigen Performances. Auch das Schreiben ihrer Romane dürfte kein Spaziergang sein. Die Autorin wählt gerne Themen, die sich nur mit großer Anstrengung zu Romanplots verarbeiten lassen.
In "Dave", 2021 mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet, etwa erzählte sie von einer nichtmenschlichen Superintelligenz. Dabei gelang ihr eine interessante Kombination aus Science und Fiction. Die Figuren in diesem Roman waren großteils Programmierer - und Programmieren ist auch eine Leidenschaft von Byproxy, der Heldin von Edelbauers neuem Roman "Die echtere Wirklichkeit".
Byproxy tüftelt an einem originellen Computerspiel, das anders funktionieren soll als handelsübliche Gaming-Kost. Wer es spielt, muss herausfinden, wie es zu einer bestimmten Situation gekommen ist. Edelbauers Ich-Erzählerin nennt das "Think-Backwards-Game". Wiewohl es sich nur um einen Nebenstrang handelt, legt Byproxy hier ein Nugget aus, wie man den Roman lesen soll.
Leserinnen und Leser des Buches sind ebenfalls dazu aufgerufen, rückwärts zu denken. Sie bekommen aber nur ausgewählt und zizerlweise Informationen dazu geliefert, wie die Protagonistin im Rollstuhl gelandet ist und was sich in ihrer Jugend sonst noch ereignet hat. Mit Fortdauer der Lektüre erscheint immer fraglicher, ob man ihrer Erinnerung und ihren Ausführungen überhaupt trauen darf. Sie ist eine höchst unzuverlässige Erzählerin.
Dass sie gut argumentieren und manipulieren kann, kommt Byproxy, die am Anfang noch keine 20 ist, zugute, als sie eines Tages aus dem Heim fliegt. Auf der Suche nach einem Schlafplatz stößt sie auf eine Wohngemeinschaft, die eine philosophische Terrorgruppe namens Aletheia (altgriechisch für "Wahrheit") beheimatet. Als Grundübel unserer Zeit hat diese Subjektivität und Relativismus ausgemacht.
Die Aktionen der Gruppe sind freilich dilettantisch und wirken eher wie ironisches Kasperltheater. Das Mastermind ist ein Theoretiker, er schreibt gern Pamphlete und liest noch lieber dicke philosophische Wälzer. Seine Kampfgefährten haben langsam genug vom ewigen Lesekreis: "Lektür mich am Arsch."
Der WG-Plot ist der stärkste Teil des Romans. Durch Byproxys Einzug wird aus dem Quartett ein Quintett -und die Kräfteverhältnisse innerhalb der Gruppe ändern sich völlig. Die neue Bewohnerin will nicht nur Bewegung in die Lektüreliste bringen und evolutionsbiologische Werke durchnehmen. Sie hat mit der Gruppe Größeres vor.
Zuerst legt sie die Website einer angeblich total unabhängigen Rechercheplattform lahm, die sich der Besitzer eines Gummibärli-Imperiums leistet. Aber das ist nur der Anfang. Mindestens in die Redaktionsräumlichkeiten der Kronen Zeitung will sie mit Aletheia vordringen. Und auch "Gewalt als Geste" ist dann nicht mehr ausgeschlossen.
Edelbauer ist blitzgescheit und kann witzig schreiben. Der Roman punktet mit einer der schrägeren Sexszenen der Gegenwartsliteratur ("Bitte, dann stopf ihn endlich rein, dachte ich"). Gelungen ist auch die Schilderung einer rechtspopulistischen Bierzeltveranstaltung, die Byproxy besucht, um den Feind besser zu verstehen. Zu ihrer eigenen Verwunderung ist sie von den Reden eher auf perverse Art fasziniert als angewidert ("Ich applaudierte mit, es war nicht einmal ironisch gemeint").
Was dem Ganzen schmerzlich fehlt, ist ein Zentrum. Über mehr als 400 Seiten entfaltet sich "Die echtere Wirklichkeit" als ein Sammelsurium von Szenen, Gedanken, Rückblenden und Exkursen. Manchmal lässt Edelbauer Byproxy ziemlich geradlinig erzählen, auch sprachlich. Dann wieder wechselt der Ton mitten im Absatz, und es wird auf einmal seltsam gestelzt.
Wenn die Heldin in höchster Aufregung in den Lift rollt, klingt das so: "Indem ich nach oben fuhr, bemächtigte sich eine Unrast meiner ( )." Puh!
Als Herz der Geschichte hat die Autorin wohl die Background-Story der Hauptfigur konzipiert. Es dauert nur leider viel zu lang, bis Byproxy etwas mehr über die einzige tiefgehende Beziehung in ihrem Leben rauslässt. Was als Kindheitsfreundschaft begann, entwickelte sich in der Jugend zu Liebe und schließlich zu einer fatalen Besessenheit.
Edelbauer kann sehr vieles, kohärente Figuren gehören jedoch nicht unbedingt zu ihren Stärken. Die WG-Kollegen von Byproxy sind hart an der Grenze zu Knallchargen gezeichnet. Und die Protagonistin ist mit ihrer weitgehenden Emotionslosigkeit halt auch nicht die Sympathieträgerin schlechthin. Romane dürfen gedankenlastig sein, sie sollten einen aber auch auf der Gefühlsebene zumindest ein bissl erwischen. In "Die echtere Wirklichkeit" ist viel Hirnschmalz geflossen, und er wartet auch noch mit einem großen Finale auf. Am Ende lässt er einen aber merkwürdig kalt.