

Wie Pflanzen Mensch und Kultur prägten
Sebastian Kiefer in FALTER 39/2023 vom 29.09.2023 (S. 29)
Pflanzen bewegen sich, wiewohl meist langsam. Sie sind empfindungs-und lernfähig, besitzen "Sinnesorgane" für Schwingungen, Düfte und Mikrostoffe in der Luft und im Wasser, die sie regelrecht "analysieren". Sie können Lebewesen, mit denen sie in Kontakt kommen, auf Gefahr und Nützlichkeit hin einschätzen und haben Äquivalente zu Nervensystemen. Auch Pflanzen müssen, wie einst schon der Naturforscher Carl von Linné vermutete, schlafen. Sie machen 99,5 % der Biomasse unseres Planeten aus, sind die Basis allen Lebens -und dennoch betrachten wir sie meist nur aus ästhetischem oder ernährungstechnischem Interesse. Das grundlegend zu ändern ist die Mission des Florentiner Botanikers Stefano Mancuso.
Wie schon Charles Darwin aktualisiert er die antike Idee einer "Intelligenz der Pflanzen" - so der Titel seines 2015 erschienenen Bestsellers. Sein neues Buch geht jene Nebenwege ab, auf denen Pflanzen zum Kultur-und Erkenntnisfaktor der menschlichen Zivilisation wurden.
Man erfährt, weshalb die französischen Revolutionäre von amerikanischen Siedlern Bäume als Geste des Widerstandes übernahmen. Man liest, wie weit der Weg zur Entdeckung war, dass der von Lebewesen aufgenommene Kohlenstoff Datierungen archäologischer oder paläontologischer Funde ermöglicht. Man staunt: Bereits im 17. Jahrhundert erkannten kluge Londoner, dass die Luftverschmutzung am besten durch ein Verbot von Kohleheizungen und das Pflanzen von Bäumen bekämpft würde. Dankbar kommt man ins Zweifeln: Die Evolutionstheorie hat nach Mancuso den Faktor Konkurrenz überschätzt, weil auch sie "animalozentrisch" voreingenommen war und die kooperationsliebenden Pflanzen gering schätzte. Es ist ein Buch voll kleiner Episoden aus der unerschöpflich verzweigten und lange ignorierten gemeinsamen Geschichte von menschlicher und faunischer Intelligenz - dargebracht mit souveräner, wenn auch mitunter etwas ausschweifender Erzählkunst.