

Im Schatten einer lebenslangen Angst
Stefan Ender in FALTER 41/2017 vom 13.10.2017 (S. 13)
Goncourt-Preisträger Pierre Lemaitre erzählt in „Drei Tage und ein Leben“ von einem Buben, der zum Mörder wird
Er ist ein netter, vertrauenswürdiger Junge, etwas schüchtern vielleicht. Antoine Courtin wächst in der Ortschaft Beauval bei seiner alleinerziehenden Mutter auf, behütet und umsichtig reglementiert. Als einer der Schulfreunde eine PlayStation bekommt und Antoines Mutter ihrem Sohn verbietet, mitzuspielen, verliert er etwas den Anschluss an seine Clique. Der Zwölfjährige beschließt, im Alleingang ein Baumhaus zu bauen und seine Kameraden zu beeindrucken.
Ein treuer Freund ist Antoine auch Odysseus. Die reinliche Frau Courtin erlaubt ihm keine Haustiere, aber mit dem dürren Mischlingshund der Desmedts erkundet er die Wälder, redet auch mit ihm. Kurz vor Weihnachten 1999 wird Odysseus von einem Auto angefahren. Man bringt ihn zu den Desmedts; Antoine stürzt zum Gartentor, der schwerverletzte Hund sucht den Blick des Buben. Herr Desmedt taxiert die Lage, holt sein Gewehr, erschießt seinen Hund und wirft dessen Kadaver zum Bauschutt.
Am nächsten Tag geht Antoine in den Wald von Saint-Eustache. Das Baumhaus, bis zuletzt noch sein ganzer Stolz, erscheint ihm im Aufruhr seiner Gefühle schlagartig als hässliches, unsinniges Werk. In wilder Rage zerstört er es zur Gänze. Plötzlich steht Rémi, der kleine Sohn der Desmedts, neben dem schluchzenden Antoine. „Warum hat dein Vater das gemacht?“, schreit Antoine den Sechsjährigen an. Noch bevor Rémi etwas antworten kann, nimmt Antoine einen Stock und schlägt ihm mit voller Wucht auf den Kopf. Rémi fällt zu Boden und rührt sich nicht mehr.
Pierre Lemaitre ist so ziemlich das Gegenteil eines literarischen Wunderkinds. Zuvor als Lehrer und in der Bibliothekarsausbildung tätig, veröffentlichte er jenseits der 50 sein erstes Buch, einen Krimi und wurde von der Londoner Times als „der neue Stieg Larsson“ gefeiert. Nach weiteren Krimis folgte dann der große Coup: Lemaitre wechselte das Genre und erhielt für seinen historischen Roman „Au revoir là-haut“ („Wir sehen uns dort oben“) 2013 den Prix Goncourt, Frankreichs prestigeträchtigste Literaturauszeichnung.
In seinem jüngsten Roman, „Drei Tage und ein Leben“, beschäftigt sich Lemaitre nun wieder mit einem gewaltsamen Todesfall. Die Frage, die für Spannung bis zum Schluss sorgt, ist natürlich die, ob Antoine seines Verbrechens überführt wird. Doch neben dem kriminologischen Aspekt fesselt vor allem die Ferdinand-von-Schirach-hafte Frage nach der Verantwortungsfähigkeit eines Kindes bei einem Schwerverbrechen. Kann ein Zwölfjähriger ein Mörder sein? Das deutsche Strafrecht räumt Schuldunfähigkeit bis zum 14. Lebensjahr ein. In Frankreich gibt es eine solche Altersgrenze nicht.
Die kriminologische Jagd nach dem Täter staffelt Lemaitre virtuos. Der größte Teil des Romans beschäftigt sich mit der Spurensuche in den Tagen nach der Tat. Nach einigen falschen Fährten steht eine großangelegte Suchaktion im Wald von Saint-Eustache unmittelbar bevor, als ein Jahrhundertsturm über Beauval tobt, Überflutungen weite Teile der Ortschaft zerstören und auch fast alle Spuren auslöschen. Das letzte Drittel des Romans spielt im Jahr 2011: Der 24-jährige Antoine steht kurz vor dem Abschluss seines Medizinstudiums, als bei einem Bauprojekt die Leiche des kleinen Rémi gefunden wird. Das Netz um Antoine zieht sich enger und enger zu.
Wird er den Ermittlern erneut entkommen? Kann er das Leben eines unbescholtenen Staatsbürgers fortsetzen? Und selbst, wenn: Kann man Antoine dann als freien Menschen bezeichnen? Das Verbrechen, das er als zwölfjähriger Junge im Affekt begangen hat, liegt wie ein immerwährender Schatten über seiner Existenz. Es hat den Anschein, dass Antoines Angst, als Kindermörder überführt zu werden, grausamer ist als jede Gefängnisstrafe (die ihm auch nach französischem Strafrecht nicht drohen würde) oder jede öffentliche Anprangerung. Bleibt nur festzustellen, dass die ganze Malaise hätte vermieden werden können, wenn Madame Courtin ihrem Sohn PlayStation und Haustiere nicht verweigert hätte.