

„Gleichstellung braucht keine Gleichheit“
Oliver Hochadel in FALTER 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 50)
Donna war anders. Sie raufte gerne mit dem Alphamännchen, sah aufgrund ihres dichteren Fells „männlicher“ als ein typisches Schimpansenweibchen aus. Die Männchen zeigten nur wenig Interesse an ihr, Mutter wurde sie nie. Kurz: Ihre Geschlechtsidentität war uneindeutig. Frans de Waal beobachtete Donna über Jahre hinweg, sie ließ sich gerne von ihm kitzeln.
Sein neues Buch „Der Unterschied“ ist voller Geschichten, die so manche Gewissheit in Frage stellen. Etwa dass es non-binäre Geschlechter nur beim Menschen gäbe. De Waal ist dank seiner populärwissenschaftlichen Bestseller einer der bekanntesten Primatologen weltweit. Er beschrieb eindrucksvoll die uns am nächsten verwandten Primaten: machiavellistische Schimpansen und Sex genießende Bonobos. Welchen der in puncto Geschlechterhierarchien grundverschiedenen Menschenaffen gleichen wir mehr? Bei den Schimpansen führt ein Alpha-Männchen das Regime, die matriarchal organisierten Bonobos verbünden sich in „Schwesternschaften“, gegen die einzelne Männchen (auch wenn diese physisch stärker sind) nicht ankommen.
„Was wir von Primaten über Gender lernen können“ verspricht der Untertitel. De Waals Argument lautet: Wenn wir die gravierenden Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern überwinden wollen, sollten wir unser evolutionäres Gepäck kennen. Immer wieder betont er: „Biologie lässt sich nicht leugnen.“ Dabei vertritt der erklärte Feminist aber gerade keinen plumpen Determinismus.
Beispiel Mutterverhalten: ein Produkt der Evolution, das aber in der sozialen Interaktion erst erlernt werden muss. Deswegen sei auch der Begriff „Mutterinstinkt“ irreführend. Natur und Kultur (nature and nurture) seien keine Gegensätze, sondern untrennbar miteinander verschlungen und aufeinander angewiesen.
Dass Männer und Frauen unterschiedlich seien, dass Burschen Fahrzeuge lieben und gerne raufen würden, während Mädchen mit Puppen spielten und Mutterverhalten übten – das ist für de Waal ein Fakt. Geschlechterspezifisches Verhalten finde sich analog bei unzähligen Primatenarten. Angewandt auf Erziehung hieße das: Kinder sollen sich ihre Spielsachen einfach selber aussuchen können.
De Waal richtet seinen Blick aber nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf unsere reduktionistische Wahrnehmung der Tiere. Haben diese Sex, ist das für uns ein „rein funktionaler Vorgang“. Gerade Menschenaffen aber haben offensichtlich jede Menge Spaß am Kopulieren, Oralverkehr und Masturbation. Forscher hätten viel zu lange nach „arttypischem“ Verhalten gesucht und viel zu wenig nach Abweichungen – wie etwa der transidenten Donna.
Biologie determiniert uns, aber nur bis zu einem bestimmten Grad. Unsere hormonelle und genetische Ausstattung ist flexibel. Schimpansenmänner spielen normalerweise nie mit den Kleinen. Stirbt aber die Mutter, werden die Kleinen von einem Männchen „adoptiert“, das sich als erstaunlich guter Vater erweist.
Dazu streut de Waal auch noch die ein oder andere polemische Spitze ein. Homosexuelle Praktiken wurden bei hunderten von Tierarten nachgewiesen – aber keinerlei Homophobie! Allerdings sei kaum eines dieser Tiere – Pinguine, Japanmakaken oder Giraffen – „konsequent“ (also lebenslang) schwul. Das finde sich nur beim Menschen und bei Schafen.
So etwas wie Vergewaltigung gibt es im Tierreich hingegen nur sehr selten – und zwar aufgrund der strikten sozialen Kontrolle. Die lebenslange Paarbindung und damit die Kernfamilie gibt es nur beim Menschen, nicht bei anderen Menschenaffen. Gerade die den Blicken der anderen entzogene Hausgemeinschaft werde hier für die Frau zur Gefahr.
„Der Unterschied“ ist ein großartiges Buch, unterfüttert mit de Waals jahrzehntelangen Erfahrungen mit Menschenaffen und seiner profunden Kenntnis der zoologischen und psychologischen Forschung (und deren gelegentlichen Irrwegen und ideologischer Verblendung!). Es ist flüssig geschrieben, klug abwägend, dabei durchaus streitbar, vor allem aber von einer tiefen Empathie für alle Primaten durchzogen. Sein Plädoyer „Gleichstellung braucht keine Gleichheit“ ist zwar nicht neu, aber bestens untermauert. Auch ist das Buch einen Tick persönlicher als de Waals frühere Werke. Er erzählt etwa von seiner Kindheit in den Nachkriegsniederlanden als vierter von sechs Brüdern. Die insgesamt sieben hochgewachsenen Männer überragten die einzige Frau um Haupteslänge. Das Sagen in der Familie de Waal aber hatte die Mutter.