

Es gibt kein richtiges Leben im falschen? Falsch!
Matthias Dusini in FALTER 8/2025 vom 19.02.2025 (S. 21)
Ein verbreitetes Geschichtsbild unterteilt Deutschland in die Zeit vor und nach 1968. Vorher ein konservativ erstarrtes Wirtschaftswunder, danach Liberalisierung. Dem Fach Soziologie kommt in diesem Modell eine besondere Rolle zu. Sie steht für jenes kritische Denken, das das Aufbrechen ideologischer Krusten erst möglich machte.
Der deutsche Autor Thomas Wagner legt eine Geschichte der deutschen Soziologie vor, die dieses Schema gründlich hinterfragt. So fortschrittlich, lässt sich die Studie "Abenteuer der Moderne" zusammenfassen, war die Gesellschaftswissenschaft einerseits gar nicht. Andererseits stellt sich die Zeit vor 1968 als weniger muffig dar, als der Blick zurück suggeriert.
Wagner macht die Entwicklung am Beispiel zweier Protagonisten anschaulich. An einem Pol steht Arnold Gehlen (1904-1976), ehemaliges NSDAP-Mitglied und Soziologieprofessor in Aachen. Den anderen Pol besetzt der aus dem US-Exil zurückgekehrte Theodor W. Adorno (1903-1969), Direktor am Frankfurter Institut für Sozialforschung, Aushängeschild der auf Psychoanalyse und Marxismus aufbauenden Kritischen Theorie.
Nazi-Soziologie
Adorno galt als Kontrahent Gehlens und hintertrieb dessen Berufung nach Heidelberg. Die anfängliche Feindschaft wich gegenseitiger Wertschätzung. Gehlens auch ethnografisch inspiriertes Menschenbild widersetzte sich völkischer Vereinnahmung. Und Adorno unterhielt durch Polemiken gegen Popmusik konservative Leser. Beide teilten das Engagement für die von den Nazis verfemte künstlerische Avantgarde. In gemeinsamen Radiogesprächen hatten die beiden Akademiker Mühe, nicht allzu versöhnlich zu klingen. Der mangelnde Widerspruch lag auch an der Materie selbst. Die Soziologie diente während des Wiederaufbaus dazu, der Verwaltung valide Daten für ihre Planungen zu liefern.
Anders als von Adorno gern behauptet, stellte die NS-Zeit auch keineswegs eine soziologiefeindliche Zäsur dar. Wissenschaftler wie Gehlen hatten im Auftrag des Regimes Umfragen gemacht, um etwa die Zustimmungswerte zum Krieg empirisch zu erfassen.
Daktari Adorno
Anekdoten mit Fakten ausgewogen mischend, macht Wagner den Disput Gehlen/Adorno zur intellektuellen Romanze -ohne Happy End. Die 68er-Bewegung entzweite die beiden. Adorno sah die Zeit für eine radikale Gesellschaftsveränderung gekommen. Zunächst im Einklang mit seinen Studenten skizzierte er die Utopie eines freien Lebens, das die kapitalistische Klassengesellschaft überwindet.
Gehlen hingegen betrachtete den Aufstand gegen die Institutionen mit Entsetzen. "Ausgerechnet die Soziologie, das Fach, dem Gehlen mehr als jedem anderen zutraute, ein für staatliche Verwaltungszwecke nützliches Wissen hervorzubringen, schien die Brutstätte der sich vor seinen Augen abspielenden Revolte zu sein", schreibt Wagner. Die Dialektik der Geschichte will es, dass Gehlen mit seinen Polemiken gegen die "Hypermoral" der Linken heute wieder Leser findet.
Das Buch bringt seine Helden menschlich näher. Der für seine Ausfälle gegen die "Kulturindustrie" bekannte Adorno wünschte sich, Samstagabend nicht gestört zu werden. Da saß er mit seiner Frau Gretel vor dem Fernsehapparat, um die von ihm geliebte Tierserie "Daktari" zu konsumieren.