

Mach nie die Tür auf: Draußen steht der Faschismus
Sebastian Fasthuber in FALTER 29/2024 vom 17.07.2024 (S. 28)
Eines Abends klopft es an der Tür von Eilish. Die vierfache Mutter, deren Tage minutiös durchgetaktet sind, hat gerade einen ruhigen Moment. Sie gerät ins Träumen und überhört das Geräusch. Aber das Klopfen geht weiter.
Eines lernt man bei der Lektüre von Paul Lynchs Roman "Das Lied des Propheten" schnell: Draußen vor der Tür wartet in der Regel nichts Gutes. Im konkreten Fall handelt es sich um zwei Polizisten in Zivil, die sich nach Eilishs Mann Larry erkundigen. Er möge sie doch bitte dringend anrufen.
Ein paar Tage später ist Larry, ein Lehrergewerkschafter, wie vom Erdboden verschwunden. Wurde er verhaftet? Und auf welcher Grundlage? Er hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen. "Der Staat", heißt es an einer Stelle, "soll einen doch in Ruhe lassen, (...) nicht wie ein Ungeheuer ins Haus eindringen".
Zugegeben: Da draußen ist Sommer, viele dürstet es nach leichtem Lesestoff. Und trotzdem ist der soeben in deutscher Übersetzung erschienene Roman, mit dem Lynch 2023 den renommierten Booker Preis gewonnen hat, ein würdiges Buch der Stunde. Dem irischen Schriftsteller, der auf dystopische Stoffe spezialisiert ist, gelingt eine eindringliche Warnung vor faschistischen Tendenzen, die aufgrund der soghaften Sprache zudem das Prädikat "literarisch wertvoll" verdient.
Nach dem Wahlsieg der Rechtspopulisten werden in Irland Andersdenkende verfolgt. Es ist die Stunde der Denunzianten. Die haben keine Skrupel und wenig Ahnung von Rechtschreibung: "Veräter", pinselt jemand auf Eilishs Auto. Sie überlegt, ob sie auswandern soll. Aber alles zurücklassen, das Haus und ihren dementen Vater?
Lynch spart Details über die politische Situation und militärische Aufrüstung in Irland aus. Tatsächlich könnte sein Roman überall in Europa spielen. Und so lässt sich "Das Lied des Propheten" als Schlüsseltext über die Gefahr des allerorts erstarkenden Faschismus lesen.